Blumen für das Volk

Unionspolitiker in einer ungewohnten Rolle: Sie fordern mehr Geld für Arbeitnehmer – damit diese mehr ausgeben können

VON STEPHAN KOSCH

Streit um die richtige Tarifpolitik geht eigentlich so: Die Linken fordern hohe Löhne, weil Arbeiter und Angestellte dann mehr Geld ausgeben können. Das sorgt für Umsatz und tut den Unternehmen gut. Konservative und Liberale hingegen fordern niedrige Löhne, weil Unternehmen dann höhere Gewinne machen. Dadurch können sie investieren, neue Jobs schaffen und die bestehenden sichern. Auch nicht schlecht für den Arbeitnehmer.

Die Wirklichkeit ist komplizierter – und seit einigen Tagen auch die Gemengelage an der wirtschaftspolitischen Front. Den Anfang machte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU). Er rief via Bild die Arbeitgeber dazu auf, bei Tarifverhandlungen auch die Binnenkonjunktur zu berücksichtigen. „Die Menschen müssen (…) für gute Arbeit gutes Geld verdienen und es dann auch ausgeben können.“ NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) pflichtete ihm bei: „Wenn das Angebot der Wirtschaft nicht stimmt, gibt es keinen Aufschwung.“

Gestern legte dann auch noch Bundespräsident Horst Köhler (CDU) nach. In einem vorab verbreiteten Interview mit dem Stern forderte er „Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer oder ihre Beteiligung am Produktivvermögen“, gegen die „Kluft zwischen Arm und Reich“. Außerdem sprach sich Köhler für ein staatliches Grundeinkommen aus. Wobei zu bedenken ist, dass sich hinter scheinbar linkem Vokabular auch eine arbeitgeberfreundliche Politik verbergen kann (siehe Text unten).

Dennoch überrascht die deutliche Parteinahme von Unions-Spitzenpolitikern für eine arbeitnehmerfreundliche Tarifrunde. Diese Rolle war bislang den Gewerkschaften vorbehalten, die schließlich auch mit den Arbeitgebern verhandeln. Hin und wieder sprang ihnen die SPD bei.

So hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im August den Arbeitnehmern einen „ordentlichen Schluck aus der Pulle“ zugebilligt – und sich damit gewiss nicht ohne Grund eines Ausspruches des früheren IG-Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel bedient. Aber damals war Wahlkampf. Der Medienkanzler musste bei der eigenen Klientel punkten.

Um Stimmen geht es zurzeit nicht – wohl aber um Stimmung. Wir sind Exportweltmeister, aber die deutschen Verbraucher halten beim Einkaufen ihr Geld zusammen. Der Handel klagt seit Jahren über schwache Umsätze. Auch wenn die Ladenbesitzer mit dem Weihnachtsgeschäft zufrieden waren – auf das ganze Jahr gesehen dürften die Einnahmen erneut gesunken sein.

Die hohen Energiepreise, die Sorge um den Arbeitsplatz und der Druck zur privaten Altersvorsorge haben die Deutschen ihr Geld – wenn denn welches übrig bleibt – eher auf die Bank als in die Geschäfte tragen lassen. Die Sparquote ist 2005 zum fünften Mal hintereinander gestiegen. 78,6 Milliarden Euro lagen zur Mitte des Jahres auf der hohen Kante. Und trotz des erwarteten kurzfristigen Aufschwungs 2006 wird der Bürger nicht unbedingt mehr Geld im Portemonnaie haben. Strom, Gas und Benzin bleiben weiter teuer. Die Krankenkassenbeiträge dürften steigen, einige Kassen haben bereits höhere Sätze angekündigt. Unklar ist, was die große Gesundheitsreform, die im nächsten Jahr gestemmt werden soll, für den Einzelnen bedeutet. Unsicherheit und höhere Fixkosten, das schädigt die Binnenkonjunktur.

Deshalb fordern nun auch Unionspolitiker einen kräftigen „Schluck aus der Pulle“. Denn die nächste Durststrecke ist bereits in Sicht. Die Deutschen werden 2006 gewiss mehr Autos, Fernseher und Möbel kaufen als sonst – und dafür 2007 umso weniger. Dann steigt die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte.