Der Faktor Zeit

Das Jahr 2005 ist so gut wie abgehakt. Auch für den Leiter des Bremer Staatsarchivs, der als Überlieferungs-Profi weiß: Rund zehn Prozent des vergangenen Jahres sollten aufgehoben werden. Der Rest kann weg

„Archivare müssen zu viel wegwerfen, als dass sie Sammler werden könnten. Als Sammler sind Sie da im falschen Job“

von Klaus Irler

Wieder ein Jahr rum, wieder was erlebt und gleichzeitig gewusst: Die Erinnerung an 2005 verblasst, je mehr das Jahr zu Vergangenheit wird. Gerne hätte man manches irgendwie konserviert, aber auch wenn der Geist will: Das Gedächtnis ist schwach. Eine Gegenstrategie wäre, Archive anzulegen. Die Königin unter den Archiven ist das Staatsarchiv. Niedersachsen hat sieben davon, Schleswig-Holstein hat eines, ebenso wie Hamburg und Bremen. Wie also halten es die Überlieferungs-Profis mit dem Bewahren? Was ist wichtig, was darf vergessen werden? Die taz nord hat nachgefragt beim Leiter des Bremer Staatsarchivs, Konrad Elmshäuser.

taz: Herr Elmshäuser, haben Sie das Jahr 2005 schon ad acta gelegt?

Konrad Elmshäuser: 2005 ist für uns arbeitstechnisch abgehakt: Die Bücher, die wir machen wollten, sind raus. Aber das Jahr 2005 als gelebte Zeit, die Spuren hinterlässt, die dann irgendwann auch ins Archiv eingehen, steht für uns noch lange nicht an. Weil zwischen einem abgelaufenen Jahr und dem Zeitpunkt, zu dem die Dokumente dieses Jahres ins Archiv kommen, immer ein größerer Zeitraum gelassen wird. Bei der Übernahme von behördlichem Schriftgut, unserem Tagesgeschäft, sind das mindesten 15 bis 20 Jahre.

Woher nehmen Sie diese Ruhe?

Das Archiv ist nur dafür da, die Dinge aufzuheben, die dauerhaft aufhebenswert sind, also archivwürdig. Die Entscheidung kann man nur treffen, wenn man eine gewisse zeitliche Distanz zu den Vorgängen hat und sagen kann: Dies und jenes sind Dokumente, die tatsächlich auch Bedeutung erlangt haben. Das ist oftmals in dem Moment, in dem Dinge gemacht werden überhaupt nicht möglich. Man braucht für die Entscheidung den Faktor Zeit. Außerdem ist das, was wir hier übernehmen, ehemaliges behördliches Schriftgut. Und das können wir den Beamten nicht aus der Hand reißen – das muss erstmal abgeschlossen sein.

Nach welchen Kriterien fällen Sie die Entscheidungen, was wichtig ist und was nicht?

Bestimmte Schriftgutarten wird man immer ins Archiv legen, egal, was drin steht – niemand würde beispielsweise die Protokollreihe des Senats in den Mülleimer drücken. Entscheidend ist außerdem, welche Akteure beteiligt waren. Es macht einen Unterschied, ob ein Senator ein Dossier zu Papier bringt oder ein ausführender Beamter seinen Tätigkeiten nachgeht. Es kommt häufig vor, dass viele Behörden an einer Sache beteiligt sind und ihre Bemerkungen dazu machen. Beispiel wäre eine Neubaumaßnahme. Da versuchen wir, die Überlieferung derjenigen Behörde zu bekommen, die federführend das Verfahren in der Hand hatte. Das sind formale Kriterien, aber allein dadurch kriegt man die Masse an Material nicht in den Griff – man muss immer sehr viel mehr wegwerfen, als man übernehmen kann. Also kommt man zur inhaltlichen Bewertung: Das ist tatsächlich sehr schwierig. Die wird umso einfacher, je länger der Vorgang her ist. Und deswegen sind Archivare in gleicher Person auch immer Historiker – ansonsten könnten sie auch Verwaltungsangestellte sein.

Wie viel Prozent des in einem Jahr entstandenen Schriftguts übernehmen Sie ungefähr?

Man hat nie den genauen Überblick, wie viel eigentlich entstanden ist. Man kriegt also nie hundert Prozent angeboten – weil es Wildwuchs gibt und Schwund und alles Mögliche. Vom angebotenen Schriftgut kann man höchstens zehn Prozent übernehmen. Pro Jahr wächst das Staatsarchiv damit um 100 bis 200 laufende Meter. Ein laufender Meter ist ein Regalbrett, auf dem in die Höhe drei Kartons gestapelt werden. Wir sind im Moment insgesamt bei ungefähr 11 Kilometern.

Was wäre ein Beispiel für einen Vorgang, dessen Folgenschwere erst Jahre später erkannt wurde?

Für Bremen war die Ansiedlung der Universität eine ganz wichtige Sache. Da hat sich gezeigt, dass für die ganze Stadt eine Weiche gestellt wurde. Das ist damals zwar auch schon als wichtige Sache wahrgenommen worden. Aber damals hat noch niemand geahnt, dass 30 Jahre später die Universität zum Kernstück für eine Neuausrichtung Bremens werden würde als Stadt der Wissenschaft und Technik. Positiv dafür hat sich weniger die innere Struktur der Universität herausgestellt, über die alle in den 70er Jahren dauernd geredet haben. Entscheidend war vielmehr, die Uni am Stadtrand anzusiedeln und da genügend Platz zu haben für eine ganz große Entwicklung.

Mal nach vorne gedacht: Was bedeutet das explosionsartige Ansteigen der Masse an verfügbaren Daten durch digitale Datenträger für Ihre Arbeit?

Die Digitalisierung fast aller Informationsträger ist für Archive und Archivare das Gegenwarts- und Zukunfts-Kernproblem. Was die Überlieferung angeht, stehen wir an einem der entscheidensten Umbrüche in der Kulturgeschichte überhaupt. Wir haben da ja zunächst den Schritt in die Verschriftlichung von menschlichem Tun, was ein frühgeschichtliches Phänomen ist und grundlegend wird für die Entwicklung jeglicher Hochkultur. Ab dem Moment, in dem ich Schrift habe, wird die relevante technische Frage die des Materialträgers. Im Moment sind wir an dem Punkt, wo das Papier abgelöst wird. Das ist ein Prozess, den wir überhaupt noch nicht beschreiben können – die früheren Übergänge vom Papyrus zum Pergament und vom Pergament zum Papier dauerten immer mindestens 100 Jahre. Das wird jetzt schneller gehen, aber wie schnell, weiß keiner. Schon vor 20 Jahren wurde gesagt: Jetzt kommt das papierlose Büro. Das war die größte Tatarenmeldung aller Zeiten, denn niemandem geht es seit Einführung der EDV so gut wie der Papierindustrie. Weil keiner geahnt hat, dass mit den neuen Medien jetzt jeder alles fünfmal ausdruckt.

Der Träger Papier erlebt also ein riesiges Comeback.

Aber es gibt Bereiche wie das Grundbuch oder die Einwohnermeldekartei, wo das Papier als Träger abgelöst wird. Die alten Karteien füllen fast ein ganzes Stockwerk hier im Staatsarchiv: Das waren Kärtchen, die blieben dann in der Behörde stehen und da wurde immer alles nachgetragen, was sich geändert hat. Auf den Karteikarten kann ich die Veränderungen immer nachvollziehen. Bei der digitalen Datei ist es aber unter Umständen so, dass der neue Eintrag den bisherigen löscht. Da wird die Datenverarbeitung zu einer Bedrohung für die Überlieferungsbildung. Ein viel größeres Problem bei digitalen Trägermedien ist aber, dass wir sehr viel weniger als beim Papier die Gewähr haben, dass sie sich in 50 Jahren noch so verhalten, wie sie sich jetzt verhalten. Ein Blatt Papier im Karton, da ist in 100 Jahren nichts passiert. Aber bei einer CD gibt es schon in fünf Jahren unter Umständen nicht mehr die Soft- und Hardware, um damit zu arbeiten.

Aber der Vorteil ist: Die CD ist klein, handlich und es passt viel drauf. Sind sie dadurch versucht, dass sie viel mehr Daten sammeln als vorher?

Eigentlich nicht. Wir machen nach wie vor den Zwischenschritt, dass wir Schriftgut, das rein digital entstanden ist, konventionell aufheben. Das heißt, dass ein Vorgang, der durch den Senat beispielsweise per Email gelaufen ist, als Ausdruck abgelegt wird. Digitale Überlieferung nutzen wir nur, wenn es um Datenbanken geht. Bei der Vorgangsbildung sind wir momentan im Umbruch: Die Staatsräte lassen heute einen Vorgang nicht mehr kreisen zur Vorbereitung einer Sitzung, sondern das geht auf dem digitalen Weg direkt auf die PCs. Wobei wir nicht am Endergebnis von politischem Handeln interessiert sind – wir wollen ja die Entscheidungsfindung im politischen Prozess abbilden. Da gibt es Planungen für eine Archivierungsvariante, die sicherstellt, dass das Prozessuale genauso aufgehoben wird, wie das Endergebnis.

Wie halten Sie es denn persönlich mit dem Archivieren: Führen Sie Tagebuch? Sammeln Sie Postkarten?

Nein. Ich führe kein Tagebuch, ich mache keine genealogischen Forschungen, ich sammle nichts. Archivare sind auch keine Sammler. Archivare müssen zu viel wegwerfen, als dass sie Sammler werden könnten. Wenn Sie da Sammler sind, dann sind Sie im falschen Job.

Inwiefern verändert Ihre Arbeit Ihren Blick auf aktuelle politische Verlautbarungen?

Gerade auf vollmundige Ankündigungen kriegt man einen sehr abgeklärten Blick. Aber es ist nicht so, dass man das, was täglich in der Zeitung steht, immer mit der Brille des Archivars sieht. Man hat zwar für das Jahr 1965 eine gewisse Fähigkeit, zu unterscheiden, was da wichtig und was unwichtig war. Aber man hat das ja nicht für die aktuelle Zeit. Insofern macht einen der Beruf da nicht schlauer.

Wobei es in Sonntagsreden ja immer wieder heißt, man könne aus der Geschichte lernen.

Das ist weitgehender Unsinn. Ich kann vielleicht versuchen, mich aus dieser Beurteilung vergangener Vorgänge heraus für die Zukunft klug zu verhalten. Aber ich kann nicht fürs nächste Mal schlau sein. Aus der Geschichte ergibt sich keine Handlungsanweisung.