Für immer gezeichnet

PROZESS Das lukrative Geschäft mit Implantaten reichte Firmenchef Mas nicht – er vermischte sein Silikon mit billigen, giftigen Stoffen

AUS MARSEILLE RUDOLF BALMER

Weil das Interesse an dem „Megaprozess“ wegen des groß angelegten Betrugs bei der Herstellung von Brustimplantaten so groß ist, reicht kein gewöhnlicher Raum: Ein Pavillon des Ausstellungsparks von Marseille ist zum riesigen Gerichtssaal umfunktioniert worden. In dieser immensen, kalten und äußerst nüchternen Mehrzweckhalle beginnt am Mittwoch das Verfahren gegen Firmengründer Jean-Claude Mas (73) und vier Führungskräfte von Poly Implant Prothese (PIP). Erst am Vormittag hat das Kassationsgericht den Weg zum Prozess frei gemacht und den Vorwurf der Befangenheit des Strafgerichts von Marseille abgewiesen.

Ganz vorn sind die Stühle für die fünf Angeklagten mit Mikrofonen aufgestellt, dahinter sitzen reihenweise ihre Verteidiger; mehr als die Hälfte des Saals belegen rund 300 Anwälte, die insgesamt 5.280 Nebenklägerinnen repräsentieren und sich vor den Journalisten entsprechend wichtig tun. Belagert und umzingelt von Dutzenden von Fotografen, betritt Mas sichtlich nervös den überdimensionierten Gerichtssaal.

Auf diesen Moment haben nicht nur die anwesenden Nebenklägerinnen gewartet, sondern weltweit Zehntausende, wenn nicht sogar Hunderttausende von Opfern dieses Silikonschwindels. Fast tausend von ihnen sind eigens zu diesem Prozess angereist, um die Verhandlung zu verfolgen. Sie alle sagen, dass sie Sühne und Wiedergutmachung fordern.

Selbst eine kleine Entschädigung wäre „mehr als symbolisch“, sagt Alexandra Blachère, die Sprecherin der Vereinigung der PIP-Implantate-Trägerinnen. Manche Frauen seien finanziell in einer dramatischen Situation, weil sie nicht das Geld hätten, um ihre PIP-Implantate ersetzen zu lassen. Blachère kritisiert auch die Unterscheidung der Krankenversicherung zwischen ehemaligen Krebspatientinnen und Frauen, die sich mit Implantaten die Brust verschönern wollten.

Als darum Mas bei der Befragung durch die Gerichtspräsidentin sagt, er habe als einziges Einkommen eine monatliche Rente von 1.700 Euro, quittieren dies seine Opfer im Saal mit empörten Schreien und Buhrufen. Wer soll den Schadenersatz leisten? Sie wissen, dass das Unternehmen PIP liquidiert worden ist und dass Mas selber seine Insolvenz angemeldet hat. Zwei seiner Mitangeklagten erklären dem Gericht, sie seien arbeitslos. Ihre Anwälte protestieren gleich zu Beginn, wegen der richterlichen Trennung von den Ermittlungen wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung sei dieser separate Betrugsprozess nicht verfassungskonform.

Firmenchef Mas gibt sich reuig, kaum zu glauben

Entrüstet über diese Vorgeplänkel sind die aus ganz Frankreich und zum Teil aus dem Ausland angereisten Opfer. Vor dem improvisierten Gerichtsgebäude sagt Joëlle Manighetti (58) der taz, sie sei es leid, ihre Geschichte wieder und wieder zu erzählen. Aber dann ist ihre Wut auf Mas, auf die Chirurgen, die Versicherungen, die „langsame Justiz“ und den „zu passiven Staat“ stärker: Sie schildert, wie sie nach einer Brustkrebsoperation PIP-Silikonkissen erhielt. Sechsmal sei sie schon operiert worden.

Was erhofft sie sich von dem Prozess? Reue der Fabrikanten, die auf Kosten der Gesundheit von Tausenden von Frauen gemogelt haben? „Ich erwarte nichts von Jean-Claude Mas, der uns gegenüber bisher nur Verachtung gezeigt hat. Und falls er sich entschuldigen sollte, glaube ich ihm kein Wort. Wir sind auf Lebenszeit gezeichnet mit unseren Narben und Schmerzen“, sagt sie. „Ich möchte, dass er das bis ans Ende seiner Tage auf seinem Gewissen hat und dass er sich selber nicht mehr im Spiegel anzuschauen wagt für das, was er uns angetan hat.“ Die 1991 gegründete südfranzösische Firma PIP gehörte einst im lukrativen Sektor der Herstellung von Brustimplantaten aus Silikon zu den drei weltweiten Marktführern. Nach 2000 wurden in La Seyne-sur-Mer bei Toulon bis zu 100.000 Implantate hergestellt. 80 Prozent davon wurden in alle Welt, vor allem nach Südamerika und Osteuropa, aber auch in die Nachbarländer, exportiert.

Doch dem PIP-Boss Mas, der sich selber als „Spielernatur“ bezeichnete und in französischen Kasinos angeblich mit einem Hausverbot belegt worden war, reichten die „normalen“ Einkünfte nicht. Er ließ das für Implantate zugelassene Silikongel weitgehend durch eine Hausmischung ersetzen, für die diverse Industrieprodukte und nichtkonformes Silikon verwendet wurden. Durch diesen Schwindel, der im Lauf der Zeit wohl keinem der 120 Beschäftigten entgehen konnte, verdiente PIP rund eine Million Euro zusätzlich pro Jahr.

Auch die Zertifikationsstelle TÜV Rheinland bemerkte bei ihren vorangemeldeten Inspektionsbesuchen bei PIP nichts. Sie machte auch keine Stichprobentests. Laut Anklageschrift ist eben auch der TÜV hintergangen worden. Er klagt bei diesem Prozess gegen Mas und PIP wegen Betrugs.

Das bringt die Opfer in Rage. Denn es gab schon Ende der neunziger Jahre Hinweise auf die Risiken. Die PIP-Implantate rissen viel häufiger, und das in den Körper ausgeflossene Gel verursachte Reizungen und Entzündungen. Heute besteht der Verdacht, dass der vorsätzlich gefälschte Inhalt auch direkt zu bis zu zwanzig registrierten Krebserkrankungen geführt hat.

In Frankreich rieten die Gesundheitsbehörden den 30.000 Betroffen, die PIP-Produkte entfernen und eventuell durch andere ersetzen zu lassen. Die Furcht war berechtigt: Ein Viertel der entfernten Implantate war bereits defekt.