alarmbereit in der jahresendzeit (3)
: Das Alte ist vorbei, das Neue hat noch nicht angefangen

Ach, schöne, unwirkliche Zeit zwischen den Jahren! Man kommt zurück aus der Provinz, vom Weihnachtsfest mit der Ursprungsfamilie, und will und muss sich jetzt beweisen, dass der eigene Entwurf der Bessere ist, dass Berlin der bessere Ort zum Leben ist.

Und so kommt man zurück in den Alltag, der aber gar nicht mehr da ist. Das Alte ist vorbei, das Neue hat noch nicht angefangen. Es ist egal, was man in diesen geschenkten Tagen tut, es zählt nicht wirklich. Das latent schlechte Gewissen des sogenannten Freiberuflers, man müsste doch arbeiten, aufräumen, lesen, dichten, setzt in dieser Zeit aus, denn die anderen Leute arbeiten ja auch kaum zwischen den Jahren.

Dafür macht sich Anhänglichkeit unter Freunden und Bekannten breit, als ginge es darum, sich gerade jetzt einander gegenseitig zu versichern. Vielleicht, weil man über die Weihnachtstage wieder erkannt hat, wo man nicht hingehört.

Wie verschneit draußen alles ist! Ach, wenn es nur ewig so weiter schneien würde, alles zudecken, bis nichts mehr ginge, bis zu einem heiteren Ausnahmezustand. Lautlos gleiten die wenigen Autos über den Schnee, alles ist so ruhig. Die Passanten auf der Oranienstraße strahlen sich an, die Stressjugendlichen an den Straßenecken formen kindliche Schneebälle. Aber bald wird das vorbei sein, die Silvesternacht verbringen wir vielleicht schon im Matsch.

Der Rückblick auf das Ausgehjahr 2005 zeigt: Es wurden keine wirklich neuen Trends gesetzt. Gut, der Uferstreifen zwischen Oberbaumbrücke und Schillingbrücke ist jetzt komplett versandet und verbart, aber aufregende Cluberöffnungen und große Partys fielen 2005 aus. Dafür wurde die Papstwahl zu einem großen Ereignis. Da konnte man als Katholikin plötzlich ganz schön auftrumpfen: Ratze verteidigen – Evangelen schocken, Atheisten brüskieren, war die Devise dieser aufregenden Tage.

Nicht nur die Religion, auch die Zeit an sich und das Älterwerden wurden in diesem fast vergangenen Jahr immer mehr thematisiert. Schon knapp 30-Jährige bekümmerten sich über ihr hohes Alter, beobachteten erschrocken das Nachlassen der eigenen Ausgeheuphorie, schreckten zurück, wenn sie plötzlich in Clubs von Jüngeren umgeben waren. Als älterer Mensch kann man nur sagen: „Liebe 30-Jährige. Das Leben ist sehr kurz, aber gleichzeitig auch sehr lang, Wer da mit dreißig schon meint ruhig und häuslich werden zu müssen und sich vom öffentlichen Leben verabschieden will, soll überdenken, was er dann die nächsten Jahrzehnte machen will.“

Noch liegt Schnee, doch die Blumenläden lassen langsam ihr winterliches Sortiment – Weihnachtskakteen, Weihnachtssterne, Tannenzweige – auslaufen und stellen auf Hyazinthen im Glas und andere erste Frühlingsboten um. So wird auch das Jahr 2006 seinen vorhersehbaren Lauf nehmen. Für den depressiven Charakter wird es natürlich wieder die gleiche Abfolge von Winterschlaf, Frühjahrsmüdigkeit, Herbstdepression und Winterschlaf bringen.

Aber müsste man jetzt schon mal ein Motto für das neue Jahr setzen, so sollte nach der längst veralteten Bewegung „Die neue Bitterkeit“, nach der „neuen Bescheidenheit“ und dem „neuen Spießertum“ vielleicht „Der neue Optimismus“ kommen. Der neue Optimismus fußt auf einer Hand voll positiver Grundannahmen: „Es ist nicht alles schlecht, wir kommen schon irgendwie zurecht, es könnte schlimmer sein, das Leben ist doch manchmal recht schön.“ Wir werden die Sache weiter beobachten. CHRISTIANE RÖSINGER