Die Britgirls der Mitford-Sippe

ADEL Jessica Mitford erzählt in ihrer Autobiografie unglaublich witzig von ihrer burlesken Familie

Am Tag der deutschen Kriegserklärung 1939 versuchte sich Boud – wie von ihr angekündigt – im Englischen Garten zu erschießen

VON JENNI ZYLKA

Mit sieben Jahren vollführt Jessica Mitford mit ihrem Vater sogenannte Tatterichübungen, die daraus bestehen, dass sie „sanft sein Handgelenk schüttelt“, während er Tee trinkt, um schon mal für später vorzusorgen, wenn er höchstwahrscheinlich einen richtigen Tatterich bekommt. Ein Jahr später organisiert sie die „Sozietät der Honnen“, eine Gemeinschaft, deren einzige Mitglieder Jessica und ihre Schwester Unity zudem eine eigene Sprache sprechen, das sogenannte Honnisch, schon die zweite eigene Sprache der Mitford-Schwestern nach „Boudledidge“.

Mit ungefähr zehn hat das Mädchen, das mit seiner Mutter von einem Besuch im Dorf zurückkommt, um Almosen an die ärmsten BewohnerInnen zu verteilen, plötzlich einen Einfall: „Höre mal, wäre es nicht eine gute Idee, wenn das ganze Geld in England gleichmäßig unter allen aufgeteilt würde? Dann würde es gar keine richtig armen Leute mehr geben.“ Das wäre aber nicht fair, erklärt die Mutter: „Es würde dir doch nicht gefallen, wenn du dein ganzes Taschengeld sparst, und ich sage dann, du musst die Hälfte von deinem Geld an Debo geben, oder?“

Die in eine einflussreiche, adlige Familie hineingeborene Autorin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, die 1996 im Alter von 79 Jahren starb, ließ sich ihre kreativen und demokratischen Gedanken zeit ihres Lebens nicht verstellen, weder von den Traditionen ihre Familie noch von den Etiketten der Gesellschaft.

Bereits 1960 schrieb die damals in den USA lebende Schriftstellerin den ersten Teil ihrer Biografie „Hons and Rebels“, die jetzt endlich ins Deutsche übersetzt wurde und mit „Hunnen und Rebellen“ der Vielschichtigkeit des Originaltitels trotz aller Sorgfalt gar nicht gerecht werden kann: „Hons“ bezieht sich zwar sowohl auf „Huns“, „Hunnen“, den aus dem xenophobischen Vokabular des Vaters gemopsten Ausdruck für Deutsche, aber auch auf ebenjene eingeschworene Mitford-Schwesterngesellschaft der „Honnen“, die auch den Titel „honourable“, die in Adels- und Politkreisen gebräuchliche Anrede „ehrenwerte“, die alle Mitford-Kinder tragen durften, mitparodierte.

Woher der unglaubliche, von Jessica extrem vergnüglich geschilderte Einfallsreichtum der Mitford-Sippe kommt, ist kaum zu verstehen, aber umso mehr zu genießen: Auch ihre Eltern zeichneten sich laut Jessica bereits durch einen zwar grundkonservativen, aber gleichzeitig ungeheuer exzentrischen Lebensstil aus. So vertraute die Mutter keinem Arzt, sondern darauf, dass „der gute Körper“ schon alles richten wird, und ließ ihre Kinder demzufolge weder impfen noch Verbände tragen – Jessica ließ sie mit einem gebrochenen, soeben vom Arzt mit Schlingen und Schienen gerichteten Arm alsbald Übungen machen, „damit der Arm nicht steif wird“.

Hitler oder Spanien

Was das zweitjüngste der sieben hochinteressanten Mitford-Kinder (sechs Mädchen, ein Junge) allein bis 1960 erlebt hat, füllt das wahnwitzige Buch bis zum Platzen. Erkenntnisreiche Wahrheiten über das Wesen der Klassengesellschaft und ihrer politischen Überzeugung stehen neben den daraus folgenden unglaublichen Taten: Nach der Kindheit, in der sich Jessica vor allem ihrer drei Jahre älteren Schwester Unity, genannt „Boud“, nahe fühlte, wurde Jessica in der Pubertät glühende Sozialistin und damit absolut schwarzes Schaf der Familie und dekorierte ihr Schlafzimmer mit Hammer und Sichel, während sich auf der anderen Seite des Kreidestrichs ihre Zimmergenossin Boud inzwischen dem Nationalsozialismus verschrieben hatte und mit Hakenkreuzen und Hitler-Bildern konterte.

Der Streit der Schwestern, anfänglich noch von gegenseitiger familiärer Liebe gekennzeichnet, nahm dramatische Züge an, als Boud und ihre älteste Schwester Diana Mitford, die für den Anführer der britischen Faschistenpartei ihren Ehemann verlassen hatte, nach Deutschland gingen und höchst offiziell und unter der Augen der fassungslosen britischen und wohlwollenden deutschen Gesellschaft Hitlers und Göbbels arische Lieblings-Britgirls wurden. Am Tag der deutschen Kriegserklärung 1939 versuchte sich Boud – wie von ihr angekündigt – im Englischen Garten Münchens zu erschießen, weil sie es nicht ertragen konnte, dass das alte und das neu gewählte Vaterland sich im Kampf gegenüberstehen sollten. Sie überlebte jedoch mit einer Kugel im Kopf und vegetierte bis zu ihrem Tod 1948 im elterlichen Landhaus vor sich hin, angeblich auf dem geistigen Niveau eines kleinen Mädchens.

Jessica war derweil mit dem ein Jahr jüngeren Antifaschisten und Sozialisten Esmond Romilly durchgebrannt, einem Neffen Winston Churchills, und zwar um im Spanischen Bürgerkrieg zu kämpfen. Die beiden hatten 1937 geheiratet und damit den britischen Gesellschaftsskandal des Jahrzehnts produziert, hatten eine Tochter bekommen, die vier Monate später an einer Masernepidemie starb – Jessica war wegen der familienbedingt fehlenden Impfungen nicht immun –, und waren, längst abgenabelt von jeglichen finanziellen Zuwendungen der Familien, zwischendurch kirchenmausarm und als Trickbetrüger und Seidenstrumpfvertreter durch die USA mäandert.

Noch vor dem frühen Tod Romillys, dessen Flugzeug 1941 bei einem Kriegseinsatz der Canadian Air Force auf Nazideutschland abgeschossen wurde, endet der erste Teil von Mitfords Biografie und lässt einen mit kaum zu ertragenden Entzugserscheinungen zurück. Wehe, der zweite Teil („A fine old conflict“, 1977) wird nicht auch bald übersetzt.

Jessica Mitford: „Hunnen und Rebellen. Meine Familie und das 20. Jahrhundert“. Aus d. Englischen von J. Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2013, 336 S., 25 Euro