Die Musik des Krieges

EPOS William T. Vollmanns „Europe Central“: ein gewaltiger Roman über Krieg und Liebe in Zeiten des Faschismus und Stalinismus

Künstlerische Kreativität und sexuelles Begehren sind Vollmann eins

VON JÜRGEN BERGER

Er hat bis jetzt vor allem literarische Reportagen geschrieben. Für einen dokumentarischen Bericht über Prostituierte war er in San Francisco unterwegs, für „Hobo Blues“ reiste er als Tramp durch die USA und für „Sperrzone Fukushima“ ins Zentrum der japanischen Atomkatastrophe. Es gibt wohl nichts, für das sich William T. Vollmann nicht interessiert. Geht es um die große Leidenschaft seines Lebens, um Schostakowitsch nämlich, hat er wohl alles zur Kenntnis genommen, was es an Material gibt. Vollmann ist bekennender Liebhaber dieses großen Komponisten der klassischen Moderne. Das macht sich bemerkbar, wenn er nun in seinem beeindruckenden Roman „Europe Central“ ein Europa in der Zeit von der Weimarer Republik bis in den Kalten Krieg umspannt.

„Europe Central“ ist ein gewaltiges Buch. Es verteilt sich auf fast vierzig Einzelgeschichten und mehr als tausend Seiten. Man versteht, dass das mit der Übersetzung etwas dauerte. Acht Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung kann jetzt aber auch der deutschsprachige Teil Europas in eine Geschichtslandschaft eintauchen, in der alle Geschichten mehr oder weniger in Richtung Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch und seiner Geliebten weisen: Elena Konstantinowskaja. Im wirklichen Leben hatten die beiden eine einjährige Affäre. Vollmann, der ein pedantischer Dokumentarist sein kann, nimmt sich in diesem Fall alle Freiheiten und dichtet ihnen eine lebenslange Leidenschaft an.

Elena sei für ihn Europa, schreibt Vollmann in einem kurzen Nachwort. Er habe sie „so grenzenlos liebenswert“ wie nur möglich erfinden wollen. Und Schostakowitsch? Er ist Vollmanns Held, ein Künstler, der sich dem Stalin-Regime verweigerte, den Zweiten Weltkrieg überlebte und künstlerisch immer produktiv blieb. Hätte Vollmann sich ganz auf diesen zentralen Erzählstrang konzentriert, wäre aus „Europe Central“ ein biografischer Roman geworden. Es sollte dann aber doch ein Panorama in Zeiten des Faschismus und Stalinismus sein und dazu brauchte es mehr Helden der Zeitgeschichte wie zum Beispiel Kurt Gerstein. Ihm widmet Vollmann sich unter der Überschrift „Saubere Hände“.

Bedenkt man, dass es um einen SS-Obersturmführer geht, der in den polnischen KZs für Hygiene zuständig war, hört sich das wie ein zynischer Witz an. Der überzeugte Christ führte jedoch ein Doppelleben, sabotierte effektivere Lösungen der Judenvernichtung und brachte sich in Lebensgefahr, als er Bischöfe oder Mitglieder ausländischer Botschaften verzweifelt bat, Informationen über die Vernichtungslager weiterzuleiten.

Feldmarschälle privat

Vollmann ordnet seine Figuren oft in Paaren an. Also stehen den Helden zwei Generäle gegenüber, deren Spuren der Erzähler in den direkt aufeinanderfolgenden Kapiteln „Ausbruch“ und „Der letzte Feldmarschall“ folgt. Zum einen wäre da Andrei Andrejewitsch Wlassow, ein Liebling Stalins, der als Kommandeur der 2. Stoßarmee den deutschen Belagerungsring um Leningrad sprengte, dann gefangen genommen wurde und in Deutschland zum Stalin-Gegner konvertierte. Eine Zeit liest sich das wie eine Reportage. Plötzlich aber taucht Vollmann ab in die Privatsphäre des Generals und verbindet historische Augenblicke mit intimen Momenten der historischen Figur.

Das Ergebnis ist eine Abfolge untergründig miteinander verbundener Einzelgeschichten, die mit unterschiedlichen Erzählstimmen überzeugend instrumentiert sind. In der Wlassow-Episode können wir einem SS-Mann lauschen, der den Sowjetgeneral herablassend taxiert und sich stark für eine gewisse Heidi Bielenberg interessiert. Wlassow verliebte sich in die lupenreine Arierin, die zu vermelden wusste: „Sie sind ein biologisch wertvoller Mann, Andrei […] Der Führer braucht ihre Kinder.“ Das mit den Kindern klappte nicht wirklich. Der konvertierte Sowjetgeneral wurde am Kriegsende von Rotarmisten festgenommen. Seine Hinrichtung in Moskau ist das Startsignal für Vollmann, sich übergangslos Generalleutnant Friedrich Paulus zu widmen.

Auch er ist wie Schostakowitsch und Wlassow ein Mann der „Mesalliance“, betrachtet man Liebesdinge unter dem Gesichtspunkt des völkischen Reinheitsgebots. Der Beethoven-Liebhaber und Hitler-Stratege war, wie die Erzählstimme süffisant anmerkt, „leicht vom Kosmopolitismus befallen“. Seine Frau hieß Coca, war Rumänin und hatte „ihre linken Neigungen nie ganz überwunden“. Hitler muss das irritiert haben, auf seinen General verzichten wollte er trotzdem nicht. Auch hier operiert Vollmann, nach dem klassischen Muster von „Krieg und Frieden“, mit einem Wechsel von intimer Situation und großem Kriegspanorama. Er imaginiert, wie es in der Familie Paulus wohl zuging, plötzlich aber sind wir mit dem General mitten im Russlandfeldzug, im Visier die kaukasischen Ölfelder.

Die Paulus-Erzählung liest sich wie der intime Bericht über einen Mann, der über Tod oder Leben entscheiden konnte, seiner Frau aber devot ergeben war. In Kontrast dazu steht das schwebende Begehren von Dmitri und Elena, diesem wundersam bisexuellen Wesen. Geht es um ihre Sinnlichkeit, wird Vollmanns Erzähler zum Voyeur und liegt mit im Bett, wenn die Russin während eines Moskauer Linguistenkongresses eine Berlinerin verführt, oder wenn sie sich Schostakowitsch hingibt. Künstlerische Kreativität und sexuelles Begehren sind Vollmann eins. Lässt er die Sphären verschmelzen, tastet Schostakowitschs Zunge sich vor „wie die Finger eines wahren Pianisten“, auf dass ihre „Seufzer ein unartikulierter Ausdruck der Ekstase, also Musik“ werden dürfen.

Derart schwülstige Momente gehören zu den Schwachpunkten von „Europe Central“. Dasselbe gilt für längere Passagen, in denen man einem musikwissenschaftlichen Seminar beizuwohnen meint. Die Stärken dieses weit ausholenden Romans überwiegen aber bei weitem. Und der Übersetzer Robin Detje hat das alles geschmeidig ins Deutsche übertragen.

William T.

Vollmann: „Europe Central“. Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp, Berlin 2013, 1.028 Seiten, 39,95 Euro