Souveräne Erscheinung

Überzeugten vor allem durch das, was fehlte: Das Weglassen bewahrte Throbbing Gristle, die unschätzbar einflussreiche Industrialgruppe, bei ihrem Auftritt in der Volksbühne vor der Selbstkopie

VON ANDREAS HARTMANN

Als vor gut einem Jahr Genesis P. Orridge, Sänger und inzwischen gleichzeitig Sängerin von Throbbing Gristle, mit seiner anderen Band, Psychic TV, in der Volksbühne aufgetreten ist, wirkte seine Verwandlung in eine Frau, der er sich seit ein paar Jahren widmet, noch nicht so überzeugend. So ungelenk, mit Hausfrauenfrisur-Perücke und der leicht unweiblich wirkenden Kombination Steckenbeine, Bierbauch und Atombusen, sah das eher so aus, als hätte der Mann, der über Jahre hinweg öffentlich und im Namen der Kunst zur Frau wird, eine Wette verloren. Wie souverän dagegen die Erscheinung von P. Orridge am lange erwarteten, von riesigem Rummel begleiteten Throbbing-Gristle-Comeback-Konzert an Silvester in der Volksbühne. Gut, mit seinen Beinchen und dem Hausmannbauch sah er/sie immer noch ein wenig aus wie Tootsie, aber seine/ihre Bewegungen wirkten nun überaus geschmeidig, geradezu damen- bis divenhaft, und das süße kurze Röckchen passte ihm/ihr wie angegossen.

Auch sonst ist Genesis P. Orridge inzwischen eine wirklich sagenhafte optische Erscheinung. In seinem Mund funkeln mehr Goldzähne als bei einem Gangsta-Rapper, der unerwartet dank seiner letzten Single zum Multimillionär geworden ist, und die aufgespritzten Schmolllippen deuten daraufhin, dass P. Orridge denselben Chirurgen konsultiert wie Pamela Anderson.

Dem groß angelegten Comeback-Projekt von Throbbing Gristle, dieser unschätzbar einflussreichen Industrialgruppe, dem nach 25 Jahren im nächsten Jahr eine neue Platte folgen soll, kommt die Geschlechtsumwandlung von Genesis P. Orridge nur zugute. Denn schon allein durch diese ist gewährleistet, dass hier nicht einfach nur ein blass gewordenes Gruppenbild mit Dame ihren ein Vierteljahrhundert alten Stiefel nochmals entlüftet, sondern dass diese Band immer noch darauf bedacht ist, sich fortzuentwickeln und auch das alte Material neu zu präsentieren. Manchmal vermisste man vielleicht ein wenig dieses Gekläffe von P. Orridge aus alten Tagen, dieses unmenschliche Gebelle eines KZ-Wärters, das sich für eine echte Dame nun nicht mehr zu ziemen scheint. Doch der neue, eher ladylike Softsprechgesang verlieh all den dargebotenen Throbbing-Gristle-Nummern beinahe so etwas wie Wärme. Und dass man bei der Musik dieser Schmerzensband immer mal wieder Lust hatte, das Feuerzeug zu schwenken, das war nun wirklich eine Sensation.

Überhaupt überzeugten Throbbing Gristle vor allem durch das, was fehlte, das Weglassen bewahrte die Londoner Band vor der Selbstkopie. Es gab keine der berühmten TG-Projektionen auf einer Leinwand, und es hat auch zum Glück keines der Bandmitglieder versucht, sich in die sowieso zu eng gewordenen Wehrmachtsuniformen – damals bei der Band beliebte Insignien der Schockwirkung – zu zwängen. Peter „Sleazy“ Christopherson trug vielmehr ein Lacoste-Polohemd unter einem blütenweißen Hemd und sah aus wie ein Familienvater von fünf Kindern und Chris Carter hätte in seinem Look auch bei einem Bewerbungsgespräch in einer Bank auftauchen können. Allerdings haben die Bandkollegen von Genesis P. Orridge natürlich auch den riesigen Vorteil, dass sie sich angesichts dessen überpräsenter schillernder Bühnenpfaupräsenz keine Sorgen mehr machen müssen, einen unglamourösen Gesamteindruck zu hinterlassen. Ein wenig peinlich wirkten bei dem Auftritt von Throbbing Gristle allein die ständigen Probleme mit der Technik. Da kommt es zum großen Sensationskonzert in Berlin, und dann fällt mal die linke Box aus, mal das Mikro, dann die Gerätschaften von Cosey Fanni Tutti. Das riss einen immer wieder aus diesen Klangstrudeln und psychedelischen Feedbackorgien, die Throbbing Gristle mit erstaunlicher Brillanz vortrugen. Andererseits kann man natürlich auch sagen, dieses gelegentliche Nichtfunktionieren wirkte bei einem derart destruktiven Sound wie die Kirsche auf dem Nachtisch, für Verstimmung sorgten die technischen Aussetzer beim Publikum aber nicht.

Als dann alles vorbei war, machten es Throbing Gristle, diese sich seit ihrem Bestehen jenseits aller popbetrieblichen Normierungen bewegende Band, erstaunlicherweise nicht anders als jede aus Funk- und Fernsehen bekannte Gaudicombo: Sie spielten ihren größten Hit, das bizarr-verstörende „Hamburger Lady“ als Zugabe, jedoch freilich in einer ziemlich verfremdeten Vision. Danach waren alle höchst zufrieden. Man ist dabei gewesen, beim Throbbing-Gristle-Konzert am Ende des Jahres 2005 in der Berliner Volksbühne, man hatte was erlebt, das Jahr einen gelungenen Ausklang, und dieses Gefühl konnte einem auch eine eventuell mal wieder misslungene darauf folgende Silvesterparty nicht mehr nehmen. Wobei diejenigen, die nach dem Konzert von Throbbing Gristle in der Volksbühne geblieben sind, diesbezüglich keine Probleme hatten, die Silvesterparty dort, wo noch Alec Empire, T. Raumschmiere, Electronicat und andere auftraten, war richtig gut.