Der Amboss im Kopf

Es ist Neujahrsmorgen. Und es ist schrecklich. Was zur Hölle ist gestern bloß geschehen?

Ich bemerkte den zwei Meter tiefen Abgrund erst, als ich auf dem Fußboden aufschlug

Es war der schrecklichste Neujahrsmorgen meines Lebens. Ich öffnete das rechte Auge, blinzelte und machte es gleich wieder zu. Dann öffnete ich das linke. Was ich sah, war nicht schön.

Dass heißt, schön war es schon. Sogar sehr schön. Aber unheimlich. Es fühlte sich weich an, duftete angenehm und hatte an den richtigen Stellen seidigblonden Haarbesatz. Kein Zweifel, das war ein Weib.

Zu klären blieb die Frage, wo kam es her? Ich dachte nach. Dabei fiel mir ein Amboss auf den Kopf. Jedenfalls dachte ich, dass mir ein Amboss auf den Kopf gefallen sein müsse, weil unter meiner Schädeldecke ein Schmerz zu wüten begann, als sei mir … – na ja, Amboss eben.

Vorsichtig zog ich meinen Arm unter dem anmutig schnarchenden Weib hervor und versuchte aufzustehen. Das war ein Fehler. Zwischen Matratze und Fußboden gähnte ein zwei Meter tiefer Abgrund. Ich bemerkte ihn erst, als ich aufschlug. Der Amboss kam gleich hinterher.

Während mir das Blut aus der Nase lief, schloss ich messerscharf, das ist ein Hochbett, also nicht mein Bett. Folglich ist das auch nicht meine Wohnung. Das erklärte nichts, stimmte mich aber irgendwie froh, denn es bewies, dass mein Hirn noch zu rudimentären logischen Operationen fähig war. „Du musst kotzen“, sagte das Hirn prompt und hatte Recht. Kurz darauf sagte es: „Nimm eine Schmerztablette.“

Gehorsam hangelte ich mich von der Kloschüssel hoch zum Waschbecken und wäre beinahe gleich wieder umgefallen. Diesmal vor Schreck. Aus dem Spiegel glotzte eine horrible Clownsmaske. Teigige Grundierung, die Augen rot wie ein brünstiger Truthahn, die Nase ein violett simmernder Klumpen. „Vergiss es!“, mahnte das Hirn. „Denk an die Schmerztablette.“ Ich klappte den Spiegel auf und fand ein Päckchen Aspirin. Ich schluckte drei Stück. Dann tappte ich zurück ins Schlafzimmer und wäre fast auf eine fette Katze getreten, die aussah wie ein nicht gewaschener Flokati. Wie solche Dinger hießen, fiel mir in dem Moment nicht ein, geschweige denn der Name dieser schönen Frau, die jetzt auf dem Hochbett dicke Bretter sägte.

Mein Hirn wechselte das Thema. Die Stichworte hießen Neue Tageszeitung, „Silvester-Kritik“, „14 Uhr Deadline“. „Rumms“, grüßte der Amboss. Hinter der Schmerzenswand formierten sich Realitätssplitter des Grauens. Ich blickte auf die Armbanduhr. Sie zeigte halb zwölf. Mir wurde heiß, dann kalt und wieder heiß. Ich sprang in meine Klamotten, rannte die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und suchte mein Fahrrad. Ich besaß doch wohl ein Fahrrad? „Gestern schon“, feixte mein Hirn. „Sehr witzig“, sagte ich. „Taxi“, sagte das Hirn und wies nach links, wo ein paar Droschkenkutscher den frischen Schnee platt stampften. Ich ging hin, drückte mich und den Amboss in den ersten Benz und krächzte meine Adresse. Es klang, als säße der fette Flokati auf meiner Zunge. Zu Hause angekommen, holte ich ein Stützbier aus dem Kühlschrank, setzte mich an den Schreibtisch und wartete, dass meinem Denkapparat irgendetwas zur Rekonstruktion des gestrigen Abends einfiel. Er gönnte sich wohl ein Nickerchen.

Panisch durchforstete ich meine E-Mails nach Infos, die mir der NTZ-Redakteur als Rezensionsbasis gesandt haben musste. Aber da war nichts. Ich griff zum Stadtmagazin, wühlte mit zittrigen Fingern darin herum und fand schließlich den Namen eines Lachsacktrios, das gestern im „Capitol“ aufgetreten war. Das musste es sein. Ich hatte Silvester bisher immer im „Capitol“ gestanden und protokolliert, wie brotdumme Kabarettisten die vergangenen zwölf Monate zu einer schalen Witzwurst pressten. Der Rest war Cut-up-Routine. Ich holte den Artikel vom vergangenen Jahr auf den Schirm, löschte die Namen, setzte die des Lachsacktrios ein und beamte den Ramsch ins Pressehaus. „Jetzt haben wir uns noch ein Bier verdient“, triumphierte das Hirn, als das Telefon klingelte. Freund Gunnar war dran. „Duarschallesaustrinkenmitmeinerneuenfreundinabhaunundichsitzimmüll.“ Ich verstand nur Bahnhof. Offensichtlich saß auch auf seiner Zunge ein Flokati. „Tut mir Leid“, sagte ich blöde. Gunnar hörte es nicht, er hatte aufgelegt. Als ich zurückrufen wollte, klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Diesmal war es der NTZ-Redakteur. Er sprach klar und deutlich. Von einer Top-Silvestergala in der Oper, von Mitarbeitern, die sich das Gehirn wegsaufen, von grober Unverschämtheit, Textrecycling und von einem Fass, das überläuft. Das Letzte, was er sagte, war: „Gefeuert!“

Ähnlichen Inhalts war der nächste Anruf. Er kam von meiner Lebensabschnittspartnerin, die den Jahreswechsel mit zwei Freundinnen auf Gomera verbrachte und inzwischen mit Gunnar telefoniert hatte. „Hättest nach der Oper nach Hause gehen sollen“, sagte mein Hirn. Ich ignorierte den Klugscheißer und stiefelte in die Eckkneipe.

Als ich zurückkam, hatte ich zwei Ambosse dabei und eine neue Nachricht auf dem Anrufbeantworter. „Hier ist Susanne. Nach so einer Nacht einfach abzuhaun, wo ich den lieben Gunnar wegen dir … dass ist soooo mies, dass ist soooo …“ Ich hörte sie schluchzen. Dann machte es klack. So endete der schrecklichste Neujahrstag meines Lebens. Es konnte nur aufwärts gehen. MICHAEL QUASTHOFF