Gute Musik ist, wenn man trotzdem bleibt

LIEDGUT Gesungen wird überall, in allen Kulturen und in fast jedem musikalischen Genre. Im Zentrum des mehrtägigen „Songs Unlimited“-Festival im Collegium Hungaricum Berlin stand das Lied

Es wurde schön gesungen, und es wurde schief gesungen. Es gab berührende Lieder, langweilige Lieder, Lieder mit und Lieder ohne Text

VON THOMAS MAUCH

Nicht alle Fragen wurden geklärt beim charmanten Festival „Songs Unlimited“ im Collegium Hungaricum Berlin hinter der Humboldt-Universität in der Dorotheenstraße, das gleich zu Beginn mit einer ganz großen einstieg: „What makes a good song?“ Was es braucht, um ein gutes Lied zu bekommen, das möchte man tatsächlich gern wissen, es war aber nicht die einzige Frage, die im Verlauf von Gesprächsrunden und Konzerten von Donnerstag bis Sonntag geklärt werden sollte. Ganz nebenbei sollten bei einem Gespräch am ersten Abend auch die „Strategien der Selbstverteidigung gegen die globale Invasion einer industriellen Hit- und Hymnenproduktion“ angesprochen werden. Ganz schön dicke Bretter.

Bei den ersten Probebohrungen aber ging es um Tonalität oder die besondere Bedeutung von Tonhöhen beim Komponieren, was einem in musiktheoretischen Fragen weniger firmen Zuhörer nicht unbedingt weiterhelfen konnte. Recht hübsch aber hörte sich an, wie sich die Gesprächsteilnehmer im Hin und Her vom Englischen und Ungarischen verhedderten und zwischendurch als Hilfssprache das Deutsche nutzten, über das alle auf dem Podium verfügten: der ungarische Komponist Gábor Litván genauso wie der seit Langem in Berlin lebende englische Komponist Chris Newman, von dem man einen Satz zum Merken bekam: „Songs are much more direct in the face.“

Das Lied ist gerade in seiner Allgemeinheit immer schon etwas Besonderes. Denn gesungen wird überall, in allen Kulturen und in fast jedem musikalischen Genre. In der Folklore, im Pop, im Rock, im Jazz. In der Neuen Musik hat das Kunstlied weiter seinen Platz. Zwischen diesen Sparten wurde an den Abenden von „Songs Unlimited“ fröhlich hin und her geschaltet, vor allem mit Musikern, die sich im experimentellen Pop gleichermaßen heimisch fühlen wie bei avantgardistischen Ansätzen.

„Im erhabenen Stil“ war das erste Konzert des Festivals am Donnerstag betitelt, bei dem das eher strenge Kunstlied zu hören war. Ausgenüchtert und das Pathos unterdrückend erschien es in Beispielen von Gábor Litván, als hingeschummelte Romantik dagegen bei Nikolaus Gerszewski, der zusammen mit Bettina Wackernagel das Festival auch kuratiert hat, während die Songs von Chris Newman fast verloren zwischen Eisler, Vaudeville und Kunstpop zu stehen scheinen. Am Freitag folgte das Programm „Eisler im Sitzen“ von Sven-Åke Johsansson und Oliver Augst, bei dem lediglich Minikeyboard und Marschtrommel gespielt und natürlich gesungen wurde.

Kunterbunt purzelte man am Samstag durch den Abend, was am Format lag, das an anderer Stelle schon des Öfteren ausprobiert worden ist: Unter dem Titel „Bric A-Braque Box“ war das Publikum aufgefordert, selbst das Programm zu bestimmen und im Wurlitzerprinzip die Songs selbst auszuwählen.

Eine Masse an unterschiedlichen Angeboten wurde da versammelt: Lieder aus der Lagerfeuerklasse wurden mit der akustischen Gitarre dargeboten, am anderen Ende des Spektrums standen musikalische Interventionen, zu denen man nicht mehr unbedingt „Lied“ sagen musste. Es wurde schön gesungen und es wurde schief gesungen. Berührende Lieder, eindrückliche Lieder, langweilige Lieder, Lieder mit Text und Lieder ohne waren zu hören. Sentimentale, theatralische Lieder, aber auch hemmungslos Lustiges und dabei gleichermaßen Verstörendes wie das „im pseudoarabischen Gesangsstil“ vorgetragene Lied „Sie ist Mohammedanerin, mit dem Fahrrad unterwegs“ von Frieder Butzmann – eine melismatische Industrialnummer des genialen Dilettanten, der die Zumutungen und Herausforderungen so einer Musik einmal präzise in dem Satz zusammengefasst hat: „Gute Musik ist, wenn man trotzdem bleibt.“

Man hörte experimentell aufgebrochenen Bossa Nova. Man hörte so einen tollen Satz wie „I like my face so much, I wear it every day“ und existentialistisch poetische Chansons aus Budapest mit János Másik und Lászlo Kollár-Klemencz: viele Wege, noch mehr Möglichkeiten.

Im Lauf des Abends in die Nacht hinein faserte die Angelegenheit etwas aus und verlor an Spannung. Man unterhielt sich, der Moderator tauchte immer öfter ab. Alles lief ein wenig aus dem Ruder und kam doch wieder kurz zusammen in der Gemeinschaft, beim Mitsingen von „Seasons in the Sun“, dem Trauerklops von einem Lied, das wieder Frieder Butzmann in die Runde warf. Da zeigte sich: Ein Lied kann allemal eine Brücke sein. Und zweitens, auch das wurde an dem Abend überprüft, kriegt man ein wirklich gutes Lied nicht kaputt. Einen einzigen Beatles-Song gab es zu hören, „Because“, recht unentschieden zwischen albern und ernst von Richard Barrett und Ute Wassermann in die Mangel genommen. Aber „Because“ hielt das einfach aus.