Hören Sie gerade Stimmen?

Was ist normal? Das fragen sich Schüler zusammen mit psychisch Kranken bei einem Anti-Stigma-Projekt

Was ist normal? Das gute Gefühl, mit der Außenwelt im Einklang zu sein? Oder eine erzwungeneAnpassung an die Norm?

Bremen taz ■ Kate Moss hat es getroffen, Robbie Williams und Eminem – vom Weltschmerz-Superstar Kurt Cobain ganz zu schweigen. Jeder kann psychisch krank werden, ob es nun Essstörungen, Süchte oder psychotische Persönlichkeitsveränderungen sind. Dass die meisten SchülerInnen nach dem „Anti-Stigma-Projekt“ dieses Statement bejahen, wertet Achim Tischer vom Krankenhausmuseum als guten Erfolg.

Mit dem Projekt wollen das Klinikum Ost und das Schulzentrum Walle der Ausgrenzung psychisch Kranker entgegenwirken. Die Schüler lernen eine psychiatrische Station kennen und bekommen im Gegenzug Unterrichtsbesuch vom Chefarzt, von einer Schizophrenie-Patientin und von einer Angehörigen.

„Viele von uns sind in der Berufspraxis schon mit der Psychiatrie in Berührung gekommen“, sagt Anne, 24, die sich an der Berufsoberschule auf das Abitur vorbereitet. „Aber gerade deswegen waren manche reserviert.“ Als Physiotherapeutin hat auch sie schon mit Psychiatriepatienten gearbeitet. Aber ein Gespräch, bei dem jenseits von therapeutischen Hintergedanken persönliche Fragen gestellt werden dürfen, schafft ein völlig anderes Verständnis. „Ich habe erst richtig begriffen, welcher Leidensdruck auf der Frau lastet, als sie erzählte, dass sie Verliebtsein nur aus Büchern kennt“, sagt eine gelernte Krankenschwester in der Diskussion. Anne fand es aufschlussreich zu erleben, wie sich die Patientin immer wieder selbst organisierte, während des Gesprächs laut über ihre momentanen Gedanken und Gefühle nachdachte. „So viel Respekt wie hier habe ich bei Gesprächen mit Therapeuten selten erfahren“, schrieb die Patientin den SchülerInnen später.

Für die zweite Projektgruppe, den Psychologiekurs der gymnasialen Oberstufe, war die Psychiatrie dagegen eine völlig fremde Welt. Doch auch so unbefangen-direkte Fragen wie „Hören Sie gerade Stimmen?“ beantwortete die Besucherin bereitwillig.

Diskriminierung zu überwinden, ist das Leitmotiv der Anti-Stigma-Kampagne. Daher informieren sich die Schüler im Krankenhausmuseum, wie man einst psychisch Kranke mit Zwangsjacken und Ketten vom Leben abschnürte. Sie diskutieren, was „normal“ bedeutet: Ist es das gute Gefühl, mit der Außenwelt im Einklang zu sein? Oder eine erzwungene Anpassung an die Norm? Gibt es „Normalität“ etwa gar nicht, weil jeder etwas anderes darunter versteht?

Für die Mutter einer Kranken, die nach langem Zögern eingewilligt hatte, den Schülern Einblick in ihre familiären Konflikte zu geben, ist Diskriminierung kein Thema. Sie baut vor: „In der Großstadt kriegt niemand mit, was in einer Familie los ist. Ich entscheide selbst, wem ich es erzähle und wem lieber nicht.“

„Wir erwähnen auch die Dinge, über die man nicht spricht“, erklärt Projekt-Initiator Achim Tischer. Will heißen: Wohin kann man sich wenden, wenn man selbst Hilfe braucht? Für den Psychologielehrer Bernd Ansteeg war es ein Schock, als ein Schüler an einer Psychose erkrankte. Selbstverletzendes Verhalten, berichtet er, komme dagegen öfter vor unter Schülern. Auch das war ein Anstoß für ihn, bei dem Projekt mitzumachen. Jetzt werden weitere Schulen gesucht, die 2006 dabei sein wollen. Annedore Beelte