die taz vor 15 Jahren: das „Heilige“ in der Sowjetunion
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Die Berufung auf die „letzten Dinge“, die religiöse Dienstverpflichtung, nimmt bei den sowjetischen Staatsmännern überhand. Hatte Gorbatschow auf dem Volkskongreß und dann in seiner Neujahrsbotschaft schon erklärt, es gebe nichts Heiligeres als die Bewahrung der Sowjetunion, so hat jetzt der Verteidigungsminister, General Dimitri Jasow verlauten lassen, es sei die „heilige Pflicht der heutigen und künftiger Generationen, den Status der UdSSR als Großmacht zu erhalten“. Nicht daß es in der Sowjetunion neu wäre, „das Heilige“ in den Dienst profaner Machtpolitik zu stellen. Es geht auch nicht darum, den Verfall einer Ideologie zu beklagen, an deren Anfängen immerhin die Forderung gestanden hatte, die religiöse Vorstellungswelt als eine entfremdete Form menschlicher Bedürfnisse zu begreifen. Vielmehr gilt es, die konkrete Funktion dieses Revivals des Heiligen dingfest zu machen. Was ist das Allerheiligste? Die russische Erde. Nicht umsonst hat Gorbatschow kürzlich gemahnt, das Werk des Zaren Iwan Kalita, des „Sammlers der Erde“, nicht zu zerstören. Wir sind Zeuge einer unheiligen Allianz zwischen dem großrussischen Nationalismus und der um den Erhalt ihrer Macht kämpfenden zentralen sowjetischen Bürokratie. Aggressiv ist diese Allianz deshalb, weil es ihr . im Gegensatz zu Solschenizyn – nicht um „Reue und Rückkehr“, mithin um eine defensive Position geht, sondern um den Erhalt des Großreichs – notfalls mit den Mitteln der Gewalt.Christian Semler, 4. 1. 1991