„Kein Anarchist“

Aufs Lessings Spuren durch die Speicherstadt

■ Der diplomierte Sozialwirt arbeitet als Dozent, Autor und Reiseleiter. Betreibt mit Sabine Homann Engel den Verein „Spurensuchen“  Foto: privat

taz: Herr Grill, warum braucht man eine Führung durch die Speicherstadt, um Lessing zu verstehen?

Michael Grill: Weil Lessing drei Jahre lang auf dem Wandrahm wohnte, den wir umrunden werden – bis hin zum damaligen Restaurant Baumhaus, in dem Lessing oft verkehrte. Bis zum Bau der Speicherstadt wohnten auf dem Wandrahm rund 20.000 Menschen – meist Arbeiter oder kleine Gewerbe. Ein Umfeld, das Lessings liberale Ansichten geprägt hat. Zudem konnte er von seiner Wohnung am Holländischen Brook aus die Katharinenkirche sehen, an der unsere Führung startet. Deren Hauptpastor Johann Melchior Goeze wurde später sein schärfster Gegner.

Warum das?

Weil Lessing die vom Orientologen Hermann Samuel Reimarus verfassten „Fragmente“ ediert hatte, die gegen die Buchstabenhörigkeit des orthodoxen Protestantismus polemisierten. Hauptpastor Goeze dagegen verfocht diese Buchstabengläubigkeit. 1778 verbot der Braunschweiger Herzog Lessing schließlich, sich theoretisch zu religiösen Fragen zu äußern. Das hat er stattdessen dann literarisch im Drama „Nathan der Weise“ getan.

War Lessing, der stetig gegen die Bevormundung des Bürgertums und der Gläubigen kämpfte, eigentlich Anarchist?

So würde ich es nicht sehen. Ich verstehe ihn eher als Verfechter von Toleranz und Fortschritt – der Aufklärung eben.INTERVIEW: PS

Treffpunkt: 15 Uhr, Katharinenkirche (Turmportal), Kosten: 10 Euro (erm. 7 Euro)