Union heizt Atomstreit an

Selbst wenn es beim Atomausstieg bleibt: Es gibt Hintertürchen. Und die Union nährt Spekulationen

VON HANNES KOCH
UND NICK REIMER

Der Atomkonsens zur Abschaltung der deutschen AKWs gerät zunehmend in Gefahr. Die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Bayern, Günther Oettinger (CDU) und Edmund Stoiber, sowie Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (beide CSU) setzen sich für den längeren Betrieb der Anlagen ein, die eigentlich bis 2009 abgeschaltet werden müssten.

„Das Ziel ist es, die Laufzeiten von sicheren Kernkraftwerken auszudehnen“, sagte gestern Uwe Köhn, Sprecher der baden-württembergischen Landesregierung. Auch Edmund Stoiber will sich mit dem von Rot-Grün 2000 beschlossenen Atomausstieg nicht zufrieden geben. „Darüber muss man reden können, ohne einen großen Koalitionsstreit heraufzubeschwören“, erklärte er bei der Winterklausur der CSU in Kreuth.

Grüne und SPD hatten 2000 zusammen mit den vier deutschen Atomunternehmen beschlossen, die einheimischen AKWs nach und nach abzuschalten. Bis 2009 sollen vier Kraftwerke vom Netz gehen (siehe unten rechts). Deshalb sorgt die gegenteilige Initiative der Union bei der SPD für wenig Freude. Neben Umwelt-Staatssekretär Michael Müller (SPD) hielt gestern auch Ulrich Kelber, Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion, dagegen: „Wirtschaftsminister Glos hat seine Rolle noch nicht gefunden.“ Anstatt einen ausgewogenen Energiemix zu unterstützen, wolle der CSU-Politiker schlicht die Atomkonzerne begünstigen. „Die CDU will Teile des Koalitionsvertrages neu verhandeln? Gut: Wir wollen das auch“, reagierte Marco Bülow, Sprecher Erneuerbare Energien der SPD-Fraktion. „Neu verhandelt gehört etwa die Mehrwertsteuer-Erhöhung 2007.“ Diese habe keinerlei ökologische Lenkungswirkung, ihre ökonomische Wirkung sei zweifelhaft.

Damit die Debatte nicht weiter hochkocht, stellte Thomas Steg, Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), schließlich klar, dass der Koalitionsvertrag nichts „an Deutlichkeit zu wünschen übrig lasse“. Deshalb könne „die Regelung zum Atomausstieg nicht geändert werden“.

Nun haben die Äußerungen aus dem süddeutschen Raum zum Teil den Sinn, die Anhängerschaft der Union zusammenzurufen. Baden-Württemberg wählt Ende März einen neuen Landtag, und die Trachtenversammlung in Wildbad Kreuth war immer Anlass für schwungvolle Ankündigungen.

Und doch gibt es einen realen Hintergrund für die aktuelle Debatte. Besonders die Energie Baden-Württemberg AG (EnBW) weist auf ein ganz praktisches Problem hin: Was passiert mit dem Atomkraftwerk Neckarwestheim 1? Laut Atomkonsens muss es etwa im April 2009 abgeschaltet werden, obwohl es guten Profit abwirft. Die EnBW möchte die Anlage länger nutzen und noch dieses Jahr wissen, ob man neue Brennstäbe für die Zeit nach 2009 kaufen soll. Denn die ließen sich nicht von heute auf morgen erwerben, heißt es. EnBW suggeriert Zeitdruck, und so wird der Atomkonsens von einem mittelfristigen Problem, das man auf die lange Bank schieben kann, zu einem kurzfristigen. Wo immer es aussichtsreich erscheint, sind die Lobbyisten des Unternehmens unterwegs.

Früher, als es Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) lieb sein kann, hat er es deshalb mit einer äußerst kniffeligen und konfliktträchtigen Frage zu tun. Bisher gibt sich der Minister eindeutig: Er sehe keinen Grund, am beschlossenen Atomkonsens etwas zu ändern. Und doch finden sich gewisse Zwischentöne auch in seinen Äußerungen. Ein „Antrag“ auf Verlängerung der Laufzeiten alter AKWs müsse „die Ausnahme bleiben“, sagte Gabriel im November 2005 in einem Interview mit der Zeit.

Tatsächlich haben die Betreiberunternehmen laut Atomkonsens die Möglichkeit, eigentlich schon überfällige Anlagen länger laufen zu lassen. Einer entsprechenden Ausnahmegenehmigung müssten Angela Merkel, Michael Glos und Sigmar Gabriel zustimmen. Ist es also vorstellbar, dass die Kontrahenten ein Geschäft abschließen: zwei oder drei Anlagen werden bis 2009 abgeschaltet, ein bis zwei bleiben am Netz? „Das ist absoluter Quatsch“, sagt Gabriels Staatssekretär Michael Müller.

Von einer Ausnahmegenehmigung abgesehen, sieht Müller freilich noch eine andere Chance, wie die Atomkonzerne Vattenfall, Eon, RWE und EnBW ihre Interessen an längeren Laufzeiten durchsetzen könnten. Drei der vier fraglichen AKWs könnten „durch Bilanztricks“ zumindest in die kommende Legislaturperiode gerettet werden. Soll heißen: Die Unternehmen legen ein paar Produktionspausen ein, damit die festgelegte Strommenge am Ende der Legislaturperiode noch nicht ausgeschöpft ist. Und nach der Bundestagswahl 2009 ergeben sich vielleicht neue Möglichkeiten, die Anlagen zu retten.