„Wir schreiben keine Songs“

Den Zufall nutzen und Zähne zeigen: Nach 25 Jahren haben sich die britischen Industrial-Pioniere Throbbing Gristle reformiert. Ein Gespräch über die Nachteile der Geschichte, Individuation dank Camouflage und sanfte Strategien in Zeiten der Angst

INTERVIEW HARALD FRICKE

taz: Die Ansage 1981 war deutlich: „The mission is terminated.“ Warum haben sich Throbbing Gristle trotzdem nach 25 Jahren wiedervereint?

Peter „Sleazy“ Christopherson: Als Band können wir all unsere Launen ausleben, wir können die Menschen mit Musik ein wenig piesacken und aus der Reserve locken. Das macht Spaß, und wir werden dafür auch noch bezahlt. Jemand, der das ohne unsere Geschichte neu ausprobieren wollte, hätte heute wohl einen schweren Stand.

Genesis Breyer P-Orridge: Ich sehe da noch eine Menge unerforschter Sounds und Ideen. Es gibt immer gute Gründe, sich zurückzubesinnen und sich zu fragen, was richtig oder was falsch war. Außerdem hat sich die Technik verändert und völlig neue Räume erschlossen.

Vor allem hat sich der Stellenwert elektronischer Musik gewandelt: Heute ist Industrial Music eine weltweite Industrie mit Gruppen wie Nine Inch Nails oder Marilyn Manson. Haben Sie für Ihre Erfindung jemals Geld gesehen?

Chris Carter: Das, was man in der Folge von Throbbing Gristle nun Industrial Music nennt, ist eine Art Frankensteingeburt, eine eigenständige Bewegung, die nichts mit uns zu tun hatte.

Cosey Fanni Tutti: Wenn du Platten, die heute unter dem Label Industrial erscheinen, mit denen von TG vergleichst: Das ist komplett etwas anderes.

Carter: Vielleicht hätten wir uns das Copyright auf den Begriff sichern sollen!

Ursprünglich haben sich Throbbing Gristle in Abgrenzung zum Kunstbetrieb formiert. Nun wird die Bandgeschichte in einer Ausstellung dokumentiert. Woher kommt dieser späte Hang zur Musealisierung?

Cosey Fanni Tutti: Die Ausstellung soll klarstellen, dass unsere Position nicht allein auf Musik reduziert werden kann, dass es immer eine Mischung aus Performance, Sound und Konzeptkunst war. Es ist auch ein Gegenentwurf zu dem sich verselbstständigenden Genre von Industrial Music – bis hin zu DJs, die sich aus der Geschichte beliebige Samples herauspicken. Die Livepräsenz von TG auf der Bühne war eine einzelne Nuance, genauso gab es aber auch die Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Derek Jarman oder die konzeptuellen Kundenprofile, die wir auf Karteikarten für unsere Firma Industrial Records erstellten.

P-Orridge: Wir haben uns immer mit Kommunikation beschäftigt, also dem offenen Dialog mit dem Publikum. Da wäre es doch töricht, wenn wir dieses Interesse nachträglich auf Musik beschränken würden. Throbbing Gristle war und ist eine bestimmte Art, wie man wahrnimmt. Es mag zu den vielen ironischen Wendungen in unserer Biografie gehören, dass TG allein aufgrund der Langlebigkeit zu einem anerkannten Kulturphänomen geworden sind. Jetzt liegt es an uns zu vermeiden, dass daraus eine allzu große Kostbarkeit wird.

Cosey Fanni Tutti: In Berlin geht die Dokumentation bewusst vor diesen Status zurück, sie lässt einen die Ideen nachvollziehen, zeigt das rohe Bildmaterial, das Sleazy für die Grafik benutzt hat, dazu die Schrifttypen und wie genau wir überlegt haben, welche Informationen für ein Plattencover wichtig sind – alles im Sinne der von Genesis geschilderten Kommunikation. Selbst die Karteikarten waren der Versuch, uns über gemeinsame Interessen mit unseren Fans auszutauschen. Es gab keine Trennung zwischen uns oben auf der Bühne und dem Publikum unten, they had to get dirty with us.

P-Orridge: Das Bild gefällt mir.

War nicht auch der militärische TG-Look ein böses Spiel mit den Fantasien von der künstlerischer Einzigartigkeit – die Avantgarde versteckt sich hinter Camouflage?

P-Orridge: Eine andere Besonderheit von Camouflage ist doch, dass sie nicht überall gleich funktioniert. Grün, Braun oder Ocker nützen einem vielleicht auf dem Land oder im Wald, aber in der Stadt machen sie dich noch viel auffälliger, also eher zur Zielscheibe. Deshalb haben wir spezielle weißlich-graue Stoffe entworfen, das war unsere Art von urbaner Camouflage.

Cosey Fanni Tutti: Wobei sich das, was als Auseinandersetzung mit Psychologie und Visualität begann, zu einem Gegenstand der Mode entwickelte.

P-Orridge: Dann wieder wurde ich gefragt, ob wir uns überhaupt noch als Individuen verstehen, wo wir doch diesen Einheitslook tragen. Dabei kommt es auf die Details an, sie machen uns erst zu Persönlichkeiten. Nichts und niemand ist identisch, das ist einfach nur eine faule Art, die Dinge wahrzunehmen. Insofern gehörte der Einsatz von Camouflage mit zu unserem Transformationsprozess, der die Leute zwang, noch einmal genauer hinzusehen.

Geht es in der Musik von TG nicht genau darum, niemals identisch zu sein?

Cosey Fanni Tutti: Das macht unsere Konzerte so besonders. Als in Berlin beim Silvesterkonzert der linke Kanal der Anlage plötzlich ausfiel, haben wir uns nicht lange damit aufgehalten, sondern die Situation einfach genutzt, um die Musik in eine andere Richtung zu verlagern.

P-Orridge: Man muss Zufälle nutzen – egal ob es sich um eine kaputte Anlage oder eine Stimme aus dem Publikum handelt.

Carter: Mittlerweile kennen wir uns ja auch lange genug, um spontan aufeinander reagieren zu können.

Cosey Fanni Tutti: So wie überhaupt der Sound von dem Einfühlungsvermögen abhängt, das man füreinander entwickelt. Es ist erstaunlich, dass am Ende immer noch wiedererkennbare Songs herauskommen.

P-Orridge: Einer der großen Irrtümer in der Popmusik ist es doch, dass die meisten Bands glauben, sie müssten auf der Bühne annähernd Studiobedingungen reproduzieren. Nur damit das Publikum wiederum denken kann: Wow, das war genau wie auf der Platte. Das erschien mir schon immer als vollkommen sinnlos – die Platte kannst du ohnehin jederzeit abspielen. Warum sollte man sich das gleiche live ansehen wollen?

Carter: Dieses Prinzip haben wir von Beginn an umgekehrt …

P-Orridge: … und jedes Konzert ganz gezielt zu einem einzigartigen Liveerlebnis gemacht.

Früher legten TG Wert darauf, das Publikum auch physisch zu treffen. Musik sollte wie eine Waffe eingesetzt werden. Gilt das noch immer?

Christopherson: In den Siebzigern waren wir wütend, das hat sich auf den Sound ausgewirkt. Heute merkt man der Musik an, dass wir als Menschen doch sehr viel ausgeglichener geworden sind – zum Glück.

P-Orridge: Für mich beruhte die Gewalt, die von TG angeblich ausging, stets auf einem großen Missverständnis. Was als Ablehnung gedeutet wurde, war eine Umarmung. Wir wollten offen über bestimmte Dinge reden und sie nicht allein dem Urteil der Medien überlassen.

Also haben Sie – selbst für Punks schwer erträgliche – Geräuschorgien und Cut-up-Texte über die Kindesmörderin Myra Hindley oder Charles Manson produziert?

P-Orridge: Sie waren Außenseiter – oder besser: Phänomene innerhalb der Gesellschaft, für die wir angemessene musikalische Formen suchten, die dann um entsprechende Lyrics erweitert wurden.

Inzwischen ist das Noisekonzept einem minimalistischen Klangmodell gewichen, das dem Zuhörer viel Raum zwischen den Tönen lässt.

Cosey Fanni Tutti: Trotzdem reichen uns nicht einfach die üblichen Bezüge zum Minimalismus aus. Der Beat verändert sich ständig, die Tonarten wechseln anders, als man vermuten würde, alles bleibt der Livesituation überlassen.

Dann muss man sich die Arbeit an den Songs wohl anders vorstellen als bei Lennon/McCartney?

P-Orridge: Wir schreiben keine Songs, wir tauschen Material aus. Manchmal stelle ich 15 Minuten an Ideen zusammen, schicke sie den anderen, die damit weiterarbeiten und das Ganze vielleicht völlig neu anordnen, bis am Ende ein Stück entstanden ist, das ich im Studio möglicherweise zum ersten Mal höre.

Carter: Im Grunde ging es immer darum, dass wir ein Kollektiv aus vier Individuen sind und dass wir auch auf der Bühne, im Kunstkontext oder auf Platten so funktionieren können.

Sie werden den Begriff nicht mögen, aber das klingt doch sehr nach Improvisation, wie man sie vom Jazz kennt.

P-Orridge: Ich würde es eher kreative Beobachtung nennen. Wir bemühen uns, genau hinzuhören und hier und da noch zusätzlich Akzente zu setzen. Jeder von uns ist in jedem Moment der Diener der anderen drei, jeder bringt seinen eigenen Enthusiasmus ein. Manchmal hat das Ergebnis Kanten und Ecken, manchmal ist es auch einfach nur voller Sanftmut.

Zurück zur Gewalt: Heute scheint Gesellschaft eher durch Angst geprägt zu werden, der war on terror geht unentwegt weiter. Wie reagieren TG auf eine solche Situation?

P-Orridge: Durch Verführung. Deshalb sind wir ja auch so viel weniger aggressiv – um nicht die bestehenden Machtverhältnisse noch zu stärken.

Cosey Fanni Tutti: Jeder hat genug von der allgegenwärtigen Aggression, die Leute schalten einfach ab, aus Selbstschutz. Nun braucht man aber gar nicht erst zu attackieren, wenn das Gegenüber ohnehin bereits in Angriffshaltung ausharrt. Das wäre nur doppelte Negation, also muss man nach anderen Wegen suchen. Zum Beispiel, indem man musikalisch eine Zone der Behaglichkeit schafft.

P-Orridge: Oder Vertrauen. In dieser Hinsicht sollten Throbbing Gristle keine Schwierigkeiten haben, schließlich waren wir immer eine durch und durch ehrliche Band.