Ganz weit draußen

MIETE Markus Schmied lebt in Spandau – und hasst es. In Wilmersdorf hat der Hartz-IV-Empfänger keine für ihn bezahlbare Wohnung mehr gefunden. Weil er sich nicht als Symbolfigur im Protest gegen steigende Mieten eignet, geschah seine Verdrängung still und leise

„Sobald ich in Wilmersdorf bin, fühle ich mich besser. Da habe ich wieder ein anderes Selbstvertrauen“

MARKUS SCHMIED

VON EVA-LENA LÖRZER

Mit angestrengtem Gesichtsausdruck bezahlt Markus Schmied* in einem Spätkauf in der Pichelsdorfer Straße sein Bier. An einem Tisch in der Ecke stehen zwei Männer, ebenfalls mit Bier in der Hand, und spielen Karten. Schmied schaut sie nicht an. Er meidet auch den Blickkontakt mit dem Verkäufer. Beim Verlassen des Ladens holt Schmied tief Luft und sagt: „Der Schuppen ist das beste Beispiel, wie die Leute hier drauf sind: versoffen und verkeimt.“

Seit einem Jahr wohnt der gebürtige Brandenburger hier in Spandau Wilhelmstadt. Unfreiwillig – Schmied ist einer von jenen, die die steigenden Mieten an den Stadtrand verdrängt haben. In seinem alten Kiez in Wilmersdorf hat er keine für ihn bezahlbare Wohnung mehr gefunden. 8,93 Euro zahlt man laut GSW-Wohnmarkt-Report in Charlottenburg-Wilmersorf inzwischen durchschnittlich bei Neuvermietungen – in Spandau sind es nur 5,90 Euro.

Angekommen in seiner neuen Umgebung ist Schmied jedoch längst noch nicht. „Ich kann hier einfach an nichts anknüpfen. Die Infrastruktur lässt auch zu wünschen übrig“, ereifert er sich. Er vermisse seine alten Kneipen. In Wilmersdorf kannte der gelernte Tierpfleger, der sich seit der Wende mit Fabrik- und Gastronomiejobs durchgeschlagen hat, durch seine Arbeit in verschiedenen Kneipen die ganze Szene.

„Zwangsumgesiedelt“

Der 41-Jährige öffnet sein Bier und nimmt einen großen Schluck. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen, weshalb er seine Wohnung in Wilmersdorf aufgeben musste, dass er „zwangsumgesiedelt wurde nach Spandau“, wie er es nennt. Er setzt mehrmals an und schweift immer wieder ab. Erst nach und nach entsteht aus seinen Erzählungen ein klareres Bild.

Unmittelbar nach der Maueröffnung sieht Schmied Spandau das erste Mal – aus einem Auto. Zu einem nächsten Kontakt mit dem Bezirk kommt es erst zwei Jahrzehnte später: 2009 wird er wegen wiederholten Diebstahls von CDs zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren verurteilt und kommt in den offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt (JVA) Spandau.

In den zwanzig Jahren dazwischen liegen viele Stationen, erzählt Schmied: vier Monate Amsterdam, wo er von seinem Kredit lebt, ein Jahr als Stapelfahrer in Zürich, drei Monate Zeitarbeit in München und Jahre als Barkeeper, Kellner und DJ in den verschiedensten Berliner Einrichtungen. Die längste Zeit arbeitet er als Barkeeper in Wilmersdorf, wo er eine Altbauwohnung am Ludwig-Kirch-Platz findet und die Miete von 345 Euro nur durch Wohngeld vom Jobcenter bezahlen kann.

Während der Fußballweltmeisterschaft 2002 erzählt ihm eine Kneipenbekanntschaft, dass man mit Fußballwetten schnell an viel Geld kommt. Schmied steigt ein – und endet in Spielsucht und Schulden. Durch CD-Diebstähle versucht er, seine Spielsucht zu finanzieren: „Ich habe ordentlich geklaut. Unter jeder Achsel immer einen Stapel neuester Doppelalben, die ich nach dem Kopieren verkauft habe. Das Geld habe ich dann wieder verspielt.“

In der JVA Spandau warnen ihn Mitgefangene, dem Jobcenter bloß nicht zu melden, dass er sich im offenen Vollzug befinde – dann würde er seine Wohnung verlieren und nie wieder eine Vergleichbare kriegen. Schmied hört auf sie. Bis zu einem halben Jahr im offenen Vollzug, so die gesetzliche Regelung, zahlt das Jobcenter den Wohngeldsatz weiter. Nach etwa einem Jahr findet Markus Schmied eine Beschäftigung bei einer Zeitarbeitsfirma. Durch die Arbeitsanmeldung beim Sozialarbeiter der JVA fliegen seine Wohngeldbezüge auf. Er wird gezwungen, seine Wohnung zu kündigen. Der Arbeitsvertrag platzt.

Schmied verliert nicht nur den neuen Job, sondern auch sein Zuhause. Er, der sich mit einem geradlinigen Lebensweg ohnehin schwer tut, hat nun noch einen Halt weniger.

Wenn andere ihre Wohnung aufgeben müssen, gibt es Proteste. Zwangsräumungen werden lautstark verhindert, Betroffene werden zu Symbolfiguren. Schmied eignet sich dafür nicht: Er ist kein klassischer Sympathieträger, seine Geschichte ist zu verworren. Die Kündigung seines Mietvertrags geschieht still und leise. Wie bei vielen anderen, die ihr Viertel verlassen müssen, ohne dass jemand es merkt.

Nach Schmieds Entlassung aus der JVA ist das Jobcenter Wilmersdorf für seine Reintegration zuständig. Er wird in ein Obdachlosenheim geschickt. Da er sich weigert, ein Zimmer zu teilen, bekommt er ein Doppelzimmer für sich: „Das schäbige Zimmer hat den Staat mehr gekostet als meine Wohnungsmiete – 760 Euro pro Monat“, erzählt er. „Ich hatte gerade einen guten Sozialarbeiter, der mir geholfen hat, meine Schulden in den Griff zu kriegen, und da sagt diese Sachbearbeiterin im Jobcenter, eine Wohnung könne ich vergessen ohne Arbeit.“

Schmied macht sich selbst auf die Suche. Er zieht durch die Straßen, klappert Hausverwaltungen ab und bewirbt sich auf alle Wohnungen, die er findet, erzählt er. Aber mit seinem polizeilichen Führungszeugnis, einer negativen Schufa-Auskunft und ohne Mietschuldenfreiheitsbescheinigung hat er keine Chance.

Nach neunmonatiger Suche hört Schmied durch Zufall vom geschützten Marktsegment, einem Vertrag zwischen Bezirksämtern und Wohnungsunternehmen: Eine zentrale Stelle vermittelt Wohnungen an Obdachlose oder andere Bedürftige, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chancen haben. Schmied erkundigt sich nach einer Bleibe in Wilmersdorf. Doch die Wohnungen, die vermittelt werden, liegen in Marzahn, Hellersdorf und Spandau. „Die haben einfach gesagt: Wilmersdorf, dat könn` Se verjessen, da kriegen wa erst janischt rin.“

Nach neun Monaten Obdachlosenheim will Schmied nur noch weg. Und bewirbt sich auf eine 1-Zimmer-Wohnung in Spandau. „Da standen schon richtig viele, nur Hartz-IV-Empfänger. Ich hatte meine besten Sachen an und bin an allen vorbei zu dem Makler. Dem habe ich einfach meine Geschichte verschwiegen und hatte dann auch gleich den Vertrag in der Hand.“

Viel von Spandau gesehen hat Schmied seitdem nicht. Sooft wie möglich fährt er nach Wilmersdorf: „Sobald ich da bin, fühle ich mich besser. Da habe ich wieder ein anderes Selbstvertrauen.“ Vielleicht stimme in Spandau was mit seiner Ausstrahlung nicht, überlegt er laut. Die Leute hier reagierten jedenfalls alle unfreundlich auf ihn, sagt er. „Es ist, als wäre ich hier verurteilt. Verurteilt zum Einsamsein.“

Demnächst will sich Markus Schmied wieder auf die Suche nach einer neuen Wohnung machen – in Wilmersdorf. Diesmal wird er zumindest eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung haben.

* Name geändert