Herr Voigts darf kein Eisschneider sein

Das Brauchtum ist heilig in Bremen – und trotzdem ist auch bei der 177. Ausgabe der Eiswette kein echter Schneider an Bord. Einer der prädestiniert wäre, darf nicht: Er ist zu schwer. Und die Tradition duldet da keine Ausnahme

Bremen taz ■ Jürgen Voigts. Eigentlich wäre er der geborene Eisschneider. Nicht Burckhard Göbel. Der füllt dieses Amt zwar schon seit Jahr und Tag aus. Doch er ist – aller Tradition zum Trotze – eben ein Schauspieler. Ein Aufschneider, sozusagen.

Voigts also ist nicht nur ein Schneider von Beruf, wie soll es anders sein. Der 69-Jährige ist, wie er betont, der einzig Verbliebene von ehemals rund 540 Bremer SchneiderInnen in der Nachkriegszeit.

Auch die Festgewänder der Herren Honoratioren stammen nur allzu häufig aus dem Hause Voigts, das schon seit anno 1903 die Schneiderei pflegt. Manch Präsident, manch Schatzmeister oder Notarius Publicus, manch König oder Novize ist hier in Oberneuland schon aus- und eingegangen, um sich festlich einkleiden zu lassen. Jawohl, „festlich einkleiden“, nicht etwa „kostümieren“, wie manch einer despektierlich meint. Und auch darauf legt der Herr Schneider wert.

Doch die Tradition, die geheiligte Tradition will es, dass der Eisschneider exakt 99 Pfund wiegt. Und nachgewogen wird selbstverständlich auch, ganz öffentlich, mitten auf dem Punkendeich am Sielwall. Mit der alten Dezimalwaage des Wundarztes mit der gepuderten Perücke. Da gibt es also kein Entkommen. 99 Pfund. Nicht mehr, nicht weniger. Auch des Eisschneiders Kartoffeln – Marke Linda, Übergewicht 67 Gramm – machen da keine Ausnahme.

Und genau an dieser Hürde des Brauchtums scheitert Jürgen Voigts, bei allem guten Willen. 140 Pfund zeigt seine Waage am Tage der Eiswette an. Und weder sein Vater noch sein Großvater waren da gute Vorbilder. Bei Voigts war noch kein Schneider schwächlich, auch wenn es der Volksmund so will. 220 Pfund brachte der Vater in guten Zeiten auf die Waage, da bricht noch jedes Eis.

Und genau darum ging es gestern ja, bei der 177. Eiswette an Heilig Drei König. Also um die Frage, ob die Weser „steiht“ oder „geiht“, ob sie zugefroren ist oder nicht. Natürlich war sie auch am gestrigen Tage nicht zugefroren, aller Kälte zum Trotze keine Eisschollen in Sicht. Und um der Chronistenpflicht genüge zu tun: Zugefroren war der Fluss das letzte Mal 1947.

Zurück zu Jürgen Voigts. Wenigstens zum zweiten Teil der Eiswette war er schon mal eingeladen, erzählt er. Schließlich gibt es neben der Spektakel am Fluss ja noch das Stiftungsfest, bei dem die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) Spenden für sich sammelt. In diesem Jahr findet es am 21. Januar statt. 700 handverlesene Gäste sind dann geladen, Männer allesamt. So will es – ja, das Brauchtum. Jan Zier