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Hetzjagd auf Lippenstifte

Die „Jungen Choreografen“ bei den Tanztagen sind alles Choreografinnen – sie präsentieren sich melancholisch und temperamentvoll, immer aber stimmungsstark

„Dies ist kein männerfeindliches Stück!“, schrillt es immer wieder aus dem am Rand der Bühne geparkten Megafon. Die permanente Wiederholung lässt kurz befürchten, dass es sich bei Raisa Krögers Choreografie „Hausboot“ in Wahrheit nicht nur um ein männer-, sondern auch um ein menschenfeindliches Stück handelt. Doch weit gefehlt: Raisa Kröger und ihre Tanzpartnerin Katharina Meyer wollen nicht nerven – sie wissen, wann es genug ist. Es gelingt ihnen durch zahlreiche Brechungen, schauspielerische Einschübe und Musik, vorschnelle Urteile zu torpedieren. Altbackene weibliche Rollenklischees werden mit gegenwärtigen konfrontiert und witzig parodiert.

„Dies ist kein männerfeindliches Stück“ könnte das Motto für die ganze „Junge Choreografen“-Reihe bei den Tanztagen sein: Viele Tänzerinnen und Choreografinnen sind versammelt, aber gerade mal einen einziger Mann taucht im Programm auf. Mag dieser Umstand auch dem Zufall geschuldet sein – weniger zufällig ist, dass sich die meisten eingeladenen Choreografinnen mit einer ähnlichen Thematik befassen: Geschlechtsidentität, Rivalität und Isolation.

Letztere gab Anna Melnikova den Impuls zu einem beklemmenden Solo, interpretiert von der israelischen Tänzerin Zufit Simon: Beschränkt auf einen rechteckigen Lichtraum erzählt „Dreifach“ vom qualvollen Gefangensein im eigenen Körper, in einer ausweglosen Situation und gleichzeitig vom genüsslichen Auskosten des damit verbundenen Schmerzes. Die Musik von Claude Chassevent verstärkt den Eindruck der Lähmung; die eingespielten Geräusche schaffen eine bedrohliche Atmosphäre, erinnern an schwülheiße Sommerabende auf dem Land, von Alltag und Menschen abgeschnitten. Die Musik zeigt dabei einen Weg aus der Isolation: Denn nur in der subjektiven Wahrnehmung der Verlassenen ist der Raum ganz geschlossen – tatsächlich aber ist er zu drei Seiten hin offen. Die akustischen Signale aber werden überhört, schließlich muss eine kleine Lichtveränderung die Enge zerstreuen.

Neben poetisch-melancholischen Ansätzen besticht die diesjährige Auswahl von Kurzchoreografien durch die Vielfalt an Ausdrucksweisen. Steht die europäische Tanzszene nicht selten im Verdacht, allzu selbstreferenziell zu sein, werden hier Ansätze verhandelt, die offensiv den Dialog mit anderen Diskursen und Darstellungsweisen suchen.

Die uraufgeführte Choreografie „Exit“ von Corinna Spieth beispielsweise versprüht den Charme der Band Stereo Total, bringt Punk und Chanson liebevoll zusammen: Das Trio Chizu Kimura, Caroline Decker und Sylvia Schmitter changiert temperamentvoll zwischen kühler Verführung und zickigem Büroangestelltentum. Ihre im Akkord klackenden Pumps rhythmisieren den eiskalten Kampf dreier Rivalinnen – unerwartet entfacht sich ein Standbild zur Hetzjagd auf einen Lippenstift, der sowohl dazu taugt, sich selbst aufzuwerten als auch die anderen auszustechen.

„Exit“ ist eine adrenalingeladene, spannungsreiche Gratwanderung zwischen Drill und Gag. Hinter den verbissenen Gesichtern lassen sich die Anzeichen eines mühsam unterdrückten Lachanfalls ahnen – der sich auf Zuschauerseite nach der Vorstellung in der Bar der Sophiensæle entlädt. ASTRID HACKEL

„Junge Choreografen“ bei den Tanztagen, bis 8. 1., www.tanztage.de

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