Kein Ende des Massensterbens im Kongo

Neue Studie: 3,9 Millionen Tote im Kongo als Folge des Krieges seit 1998. Nicht Gewalt, sondern Armut ist die Hauptursache. Seit Jahren liegen die Sterberaten im Ostkongo konstant so hoch wie bei den schlimmsten humanitären Dramen der Welt

von DOMINIC JOHNSON

Die Folgen des Krieges in der Demokratischen Republik Kongo fordern mehr Menschenleben als jede andere humanitäre Krise auf der Welt. Dies ergibt eine neue Studie der US-Hilfsorganisation „International Rescue Committee“ (IRC), deren Ergebnisse die britische medizinische Fachzeitschrift The Lancet gestern veröffentlichte. Demnach sind zwischen Kriegsbeginn im Kongo 1998 und 2004 3,9 Millionen mehr Menschen gestorben, als unter friedlichen Bedingungen zu erwarten gewesen wäre. Die meisten Todesfälle seien auf leicht vermeidbare und behandelbare Krankheiten zurückzuführen.

Seit 2000 hat das IRC vier Studien zu den Opferzahlen des Kongokrieges vorgelegt. Die kumulativen Todeszahlen wurden im Juni 2000 mit 1,7 Millionen Menschen angegeben, im März 2001 mit 2,5 Millionen, im April 2003 mit 3,3 Millionen und im Dezember 2004 mit 3,8 Millionen. Die neue Studie ist eine Überarbeitung der Studie von 2004. Alle Studien setzen die gleiche Methode einer Haushaltsbefragung nach Stichproben ein und rechnen die Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung hoch. Ein kontroverses Vorgehen, das viel höhere Resultate ergibt als alle anderen Methoden. So wurde im November 2004 im Lancet die Zahl von 180.000 zivilen Kriegsopfern im Irak seit der US-Invasion 2003 ermittelt – zehnmal mehr als in anderen Erhebungen.

Die Schwäche der Kongo-Studien des ICR liegt in den Annahmen darüber, wie viel weniger Menschen ohne Krieg gestorben wären. Das IRC vergleicht seine Erhebungen mit der gängigen UN-Zahl für die durchschnittliche Sterberate in ganz Afrika – 1,5 Tote pro 1.000 Menschen pro Monat. Ob das der realen Sterberate in entlegenen Dörfern des Kongo entspricht, wo es keine Gesundheitsversorgung gibt, ist nicht bekannt.

Andererseits ist das Massensterben im Kongo in den letzten Jahren nicht von der Hand zu weisen. Die IRC-Rohdaten sind erschreckend: In Kalemie im Ostkongo lag 2000 bis 2001 die Sterberate, genannt „Crude Mortality Rate“ (CMR), bei monatlich 10,8 Toten pro 1.000 Menschen. In ganz Ostkongo wurde für 1998 bis 2001 eine CMR von 5,4 errechnet, für 2002 von 3,5 und für 2003 bis 2004 von 2,7, was nun leicht nach oben korrigiert worden ist. Zum Vergleich: In Sudans Kriegsregion Darfur liegt die CMR derzeit nach UN-Angaben bei 2,4. Hilfsorganisationen definieren einen Wert von drei – das Äquivalent von einem Toten pro 10.000 Menschen pro Tag – als humanitäre Notlage, das Doppelte als humanitäre Katastrophe mit höchster Alarmstufe.

Todesraten, die ansonsten nur zu Höhepunkten von Hungersnöten oder Massenvertreibungen gemessen werden, sind also im Ostkongo mit seinen 20 Millionen Einwohnern seit 1998 Alltag. Hunger, Seuchen und Krankheiten sind der Hauptgrund. Von den 600.000 neuen Toten, die 2003 bis 2004 errechnet wurden, kamen laut IRC „nur“ 10.000 durch unmittelbare Gewalt um. Fast die Hälfte der Toten war weniger als fünf Jahre alt, obwohl diese Altersgruppe nur ein Fünftel der Bevölkerung ausmacht. Jedes sechste Neugeborene stirbt vor dem ersten Geburtstag.

Im Kongo hat seit jeher nur eine Minderheit der mittlerweile 60 Millionen Einwohner Zugang zu Basisgesundheitsversorgung. Das Land zählt nur 400 Krankenhäuser und 5.000 Gesundheitsstationen. Die Hälfte davon ist in Staatshand, aber meist schlecht ausgestattet. Die andere Hälfte wird von Kirchen und Hilfswerken aufrecht erhalten. Jeder Besuch kostet Geld. Patienten müssen Medikamente, Essen und Bettzeug meist selbst kaufen und auch Ärzte und Pfleger selbst bezahlen. Drei Viertel der Kongolesen leben allerdings in absoluter Armut.

Nach Umfragen der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) im Kongo sind die Kosten – und nicht etwa Unsicherheit oder mangelnde Erreichbarkeit – der Hauptgrund, warum die Menschen keine medizinische Hilfe bekommen. Als wichtigste Todesursachen stellt MSF in seinen im November vorgelegten Untersuchungen Malaria, Atemwegserkrankungen und Durchfall fest.

MSF führte 2005 ähnliche Befragungen durch wie IRC, leitete daraus aber keine Hochrechnungen ab. Doch die einzelnen Sterberaten, die MSF ermittelt, sind noch weit dramatischer als die des IRC: 3,4 Tote pro 10.000 Menschen pro Tag (gleich 10,2 pro 1.000 pro Monat) in der Stadt Lubutu zum Beispiel. Auch in westkongolesischen Gebieten ohne Krieg werden Katastrophenwerte von über zwei Tote pro Tag gemessen. Die gesundheitliche Lage der Menschen im Kongo war laut MSF im angeblichen Friedensjahr 2005 schlechter als im Kriegsjahr 2001.

„Um die Sterberaten zu senken, ist verbesserte Sicherheit wesentlich“, bilanziert IRC, „und es muss viel mehr humanitäre Hilfe geben.“ MSF stimmt dem zu und ergänzt: „Es ist wichtig, dass das Massensterben im Kongo nicht nur mit den andauernden Kämpfen in Verbindung gebracht wird. Extreme Armut kostet Menschenleben.“