Ein dauerhafter Notfall

AUS HAMBURG BARBARA BOLLWAHN

Es gibt Menschen, die übertreiben nicht, wenn sie sagen, sie haben schon alles mitgemacht im Leben. Volker Laurich ist so einer. Geboren im Januar 1945 in Hamburg, der Vater im Krieg gefallen, die Mutter gibt ihn für ein halbes Jahr zu einer Tante nach Bayern, als sie wieder heiratet. Er ist unstet, lernt Autoschlosser, geht zur Bundeswehr, arbeitet im Hamburger Hafen, ein paar Jahre in Berlin. Eine Verlobung platzt, er ist doch lieber für sich. Mit dem Fahrrad erkundet er Schweden, findet ein Auskommen auf einem Bauernhof. Als die Bäuerin stirbt, geht er zurück nach Hamburg. Er lebt in Pensionen, nimmt, was kommt. Irgendwann bestimmt der Alkohol sein Leben. Im Suff stürzt er ein paar Mal böse vom Rad. Er klaut im Rausch, landet einen Monat im Knast. Das Herz macht nicht mehr mit. Ein Infarkt.

Volker Laurich ist jetzt 61 Jahre alt. Seine Haare sind grau, auch der Bart, die Gesichtsfarbe blass, der linke Arm noch immer steif, die Finger verkrümmt. Beim Erzählen, mit leiser Stimme im Hamburger Singsang, kommt er oft ins Stocken, bringt durcheinander, bis wann er gearbeitet hat, wann die Entziehungskur war, wann er den Halt verloren hat. Es fällt ihm schwer, den Überblick zu behalten über sein Leben, das ihm seit langem entglitten ist. Als er im vergangenen Sommer den Infarkt erlitt, stürzte er gegen die Heizung, lag die ganze Nacht am Boden. Am nächsten Morgen wurde er gefunden. Zu Hause.

Sein Zuhause ist nicht das, was man normalerweise ein Zuhause nennt. Es ist eine Notunterkunft für alleinstehende obdachlose Männer. Sie heißt Achterdwars, so wie die Straße in Hamburg-Bergedorf, in der die drei dreistöckigen Backsteinhäuser mit 18 Einzel- und 80 Doppelzimmern stehen, eine halbe Stunde S-Bahnfahrt vom Zentrum entfernt. Ausgerechnet in direkter Nachbarschaft zu einer Reihe von Firmen, die mit den eigenen vier Wänden zu tun haben. Sanitär, Elektro, Gasheizung, Klima, Kücheneinrichtungen.

Vor zwanzig Jahren errichtet, ist Achterdwars eine der ältesten Unterkünfte für die etwa 3.000 Obdachlosen in der Stadt. Die blauen Dächer, die orangefarbenen Türen und Fenster, der kleine Platz davor mit der Telefonkabine, den Büschen und Rabatten, es könnte auch ein Schulungszentrum sein. Nur die Dutzenden Briefkästen, die eng an eng in den Eingängen hängen, lassen ahnen, dass hier mehr Menschen wohnen als in normalen Mietshäusern.

Nach dem Polizei- und Ordnungsrecht sind die Kommunen zur Notunterbringung Wohnungsloser verpflichtet. So wie jedes Bundesland sein eigenes Ordnungsrecht hat, sind auch die Unterkünfte verschieden: Es gibt Sozialwohnungen, gewerblich betriebene Pensionen oder Hotels, Baracken, Container, so genannte Schlichtwohnungen. Dass auch die vorübergehende Behebung von Obdachlosigkeit tödlich sein kann, zeigt die Katastrophe im Dezember vergangenen Jahres in Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Dort verbrannten in einer Containerunterkunft neun Männer bis zur Unkenntlichkeit.

Achterdwars ist keine solche Containersiedlung. Der bauliche Zustand ist in Ordnung. Es gibt keine Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftsräume, in denen Trinkgelage mit schlimmem Ausgang abgehalten werden können. Die Männer haben so etwas wie eine Privatsphäre, sie leben in Ein- oder Zweizimmerapartments. So heißen die kleinen Wohnungen, die rechts und links der langen Flure abgehen. Trotzdem wäre Laurich um ein Haar gestorben, als er nach seinem Infarkt hilflos am Boden lag. Seine Rettung war der Sozialarbeiter. Der hatte ihn vermisst.

Laurich war damals einer der Ersten, die in Achterdwars einzogen, er kam direkt aus einer anderen Obdachloseneinrichtung. Das hier sollte keine Dauerlösung sein, nur ein Provisorium, eine Zuweisung durch das Grundsicherungsamt erfolgt für maximal ein Jahr. Doch so wie es kranke Menschen gibt, deren Zustand sich nicht bessert, gibt es auch Menschen ohne Wohnung, die den Weg zu den eigenen vier Wänden nicht allein schaffen. Seit 1985 wird Laurichs Provisorium immer wieder um zwölf Monate verlängert. Die 201 Euro Monatsmiete für sein Einzelzimmer zahlt das Grundsicherungsamt. Ein Platz im Doppelzimmer kostet 111 Euro. Das Gros der Bewohner lebt von Hartz IV, bei ihnen übernimmt die Hartz IV-Behörde die Kosten für das Dach über dem Kopf.

Laurich und die anderen sind „Wohnungsnotfälle“. Ein Begriff, der Mitte der 80er-Jahre vom Deutschen Städtetag geprägt wurde. Nach Paragraf 72 Bundessozialhilfegesetz haben sie Anspruch auf „Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“. In Einrichtungen wie Achterdwars sollen sie „befähigt werden, Potenziale zur Selbstversorgung zu erlangen“.

Amtsdeutsch hat oft wenig mit der Realität zu tun. Die sieht in Achterdwars so aus: Ein Sozialarbeiter, zwei Verwaltungskräfte, ein Hausmeister kümmern sich um 178 alleinstehende, obdachlose Männer, die oft mit Alkohol- und psychischen Problemen kämpfen.

Andy Lürssen, der ein bisschen wie der Schauspieler Heino Ferch aussieht, arbeitet hier seit elf Jahren. Als der 46-Jährige anfing, gab es zwei weitere Sozialarbeiter und einen Pfortendienst, der rund um die Uhr besetzt war und die Einhaltung der Besuchsregelung bis 22 Uhr kontrollierte. Mittlerweile ist die Pforte nicht mehr besetzt und Lürssen der einzige Sozialarbeiter.

Hintergrund ist die Neuorganisation der Wohnversorgung von Obdachlosen in Hamburg seit dem vergangenen Sommer. Jetzt kümmern sich „Fachstellen für Wohnungsnotfälle“ in den sieben Bezirken um Menschen mit „Marktzugangsproblemen“ und deren Integration. So soll die Zahl der „öffentlich untergebrachten Menschen“ verringert werden. Um das zu erreichen, wurde Personal aus den Unterkünften abgezogen und in die Fachstellen versetzt. „Vorher konnte ich das machen, was man unter Sozialarbeit versteht“, sagt Lürssen. „Jetzt bin ich vor allem für die Befriedung zuständig.“ Er ist schon froh, dass er alle Bewohner kennt, Vertrauen aufgebaut hat und „angstfrei durch die Einrichtung gehen kann“. Bei einer engen Belegung bleiben Auseinandersetzungen nicht aus.

Dass das neue Konzept dazu führt, mehr Menschen dauerhaft mit eigenem Wohnraum zu versorgen, bezweifelt Lürssen. „Nur über Vertrauen und Nähe gelingt das.“ Jedes Jahr kämen 100 neue Männer nach Achterdwars, genauso viele würden die Notunterkunft pro Jahr wieder verlassen. „Die meisten sind unbekannt verzogen.“ Aber, weicht Lürssen aus, er dürfe die Neuerung nicht werten. Doch seine Skepsis ist nicht zu überhören. Lürssen erzählt, dass es unter den Bewohnern eine deutliche Zunahme von Hartz-IV-Empfängern gibt, von jungen Männern ohne Ausbildung, mit Drogenproblemen, von psychisch Kranken. „Es spielt keine Rolle, ob eine Person eher in ein Pflegeheim, eine Psychiatrie oder Jugendeinrichtung gehört. Wer obdachlos wird, wird aufgenommen.“ Als er die Bilder von dem Brand in Halberstadt sah, dachte er: „Hoffentlich passiert hier so was nicht.“ Lürssens Verhältnis zum Tod hat sich durch seine Arbeit geändert. Er weiß: „Wenn jemand Feuer legen will, kann man das gar nicht verhindern.“

Träger von Achterdwars ist das Unternehmen „Pflegen und Wohnen“. Die Anstalt öffentlichen Rechts bringt im Auftrag der Stadt obdachlose Menschen unter, 2.700 Plätze hält sie zur Verfügung. Pressesprecher Winfried Sdun ist ein rundlicher Mann mit Vollbart und Brille, der in seinem Büro selbst gebackene Plätzchen anbietet. Früher hat er beim Sozialamt St. Pauli gearbeitet, er kennt noch Hotelunterbringungen auf der Reeperbahn. Zu dem neuen Senatskonzept äußert auch er sich zurückhaltend. Das mag daran liegen, dass er Fraktionsvize der GAL in der Bezirksversammlung Altona ist und der Hamburger Senat mittlerweile von der CDU regiert wird. „Das Konzept ist darauf ausgerichtet, das Thema Obdachlosigkeit so in den Griff zu kriegen, dass es immer weniger Obdachlose werden“, sagt er diplomatisch. Doch seine Wahrnehmung ist eine andere. „Im Moment stellen wir fest, es werden mehr.“

Winfried Sdun beobachtet „eine neue Qualität“ bei den Obdachlosen. Familien, die durch Arbeitslosigkeit und Hartz IV gezwungen sind, aus ihren Wohnungen auszuziehen. „Nicht die klassischen Obdachlosen, denen man es ansieht.“ Der Senat hat zwar angekündigt, 600 Wohnungen mehr für die Integration von wohnungs- und obdachlosen Menschen zu schaffen. „Ob das greift, muss man sehen“, sagt Sdun vorsichtig. „Es gibt einen Personenkreis, der schafft es nicht aus der Obdachlosigkeit.“

Volker Laurichs Zimmer trägt die Nummer 31. Es riecht streng, es ist voll, aber alles hat seinen Platz. Obwohl es eine kleine Küche und ein Bad gibt, das er sich mit einem anderen Bewohner teilt, stehen Toilettenpapier, Waschbeutel, Gewürze, Wurstbüchsen und Gläser mit Gemüsebrühe in Reih und Glied auf dem Fußboden. In der Mitte des Raums steht ein Tisch mit einem Fernseher, umgeben von Wasserkocher, Tee- und Kaffeedosen. Neben dem Tisch ein schmales Bett, die Decke darauf glatt gestrichen, an der Wand Bilder von Segelschiffen und ein Bücherregal. Die Titel klingen, als wäre das Leben von Volker Laurich zwischen Buchdeckel gepresst: „Fahrradatlas“, „Deutsche Städte vor 100 Jahren“, „Jeder stirbt für sich allein“.

Unbeholfen steht er in seinem Zimmer. „Ein Zuhause stelle ich mir anders vor“, sagt er. „Aber dazu komme ich nicht mehr.“ Dafür habe er zu viele Fehler gemacht. Zu viel unterwegs, zu viel gesoffen. Jetzt reicht seine Kraft nur noch zum Fernsehen, selbst Kreuzworträtsel und Spaziergänge sind seit dem Infarkt anstrengend. „Der Zug für eine eigene Wohnung ist abgefahren.“ Wirklich traurig klingt er nicht. Eher erleichtert, dass er in Achterdwars einen Ort gefunden hat, an dem er zumindest nicht allein ist. Für einen, der schon alles mitgemacht hat im Leben, hätte es schlimmer enden können.