Jenseits der geraden Strecke

FREIZEIT Die Parkeisenbahn Wuhlheide war viele Jahre ein beliebtes Ausflugsziel – bis ein Missbrauchsskandal die Bahn in Misskredit brachte. Seitdem hat sich einiges getan

Es gibt nun eine Kinderschutzbeauftragte und ein Kinderschutzkonzept

VON UTA EISENHARDT

Per Hand kurbelt ein Teenager die Schranken herunter. „Ist nicht schwer“, sagt er. Er scheint im Winter gewachsen zu sein, die Hose seiner dunkelblauen Uniform ist ihm zu kurz geworden. Sein jüngerer Kollege verkündet den „lieben Kindern“ und den „geehrten Damen und Herren“, dass in Kürze der Zug in Richtung „S-Bahnhof Wuhlheide / Freilichtbühne“ einfahren wird. Dann ertönt ein lautes Hupen und die kleine blaue Diesellok Gunther taucht aus dem dichten Blattwerk der Wuhlheide auf, dem Waldpark im Südosten Berlins, in dem das FEZ liegt.

Lok Gunther zieht an diesem sonnigen Frühlingstag drei Waggons durch die Wuhlheide. Der mit den offenen Seiten ist der Favorit: Überall sitzen Kinder, die von ihren Eltern eine kleine Schaffnerkelle spendiert bekommen haben. Deren Stiel ist mit bunten Perlen aus Zucker gefüllt.

Vor einigen Wochen hat die Berliner Parkeisenbahn ihren Betrieb in der Wuhlheide wieder aufgenommen. Es ist ihre 58. Saison, in der sie an jedem Wochenende und in den Ferien vor allem Familien und Konzertbesucher transportiert – von der „Freilichtbühne“ zum „Haus Natur und Umwelt“, zum „Badesee“ oder „Eichgestell“. Pro Jahr sind es etwa 60.000 Fahrgäste. Eine Rundfahrt dauert eine halbe Stunde, im 15-Minuten-Takt ziehen die Züge ihre Runden.

Missbrauch in großem Stil

Im Oktober 2011 war die beliebte Schmalspurbahn in die Negativ-Schlagzeilen geraten. In der Folge wurde von sieben Hobby-Eisenbahnern berichtet, die sich in diversen Prozessen wegen sexuellen Missbrauchs von 28 minderjährigen Jungen verantworten mussten. Einige von ihnen waren zuvor selbst Opfer von Übergriffen gewesen, die bereits seit den 1990er Jahren auf dem Bahngelände, bei Ausflügen und in den Wohnungen der Täter stattgefunden hatten.

Mittlerweile sind alle Pädophilen verurteilt, einer von ihnen sogar zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten: Der einschlägig Vorbestrafte hatte seine Opfer nicht nur im Intimbereich berührt, sondern auch zum Anal- und Oralverkehr gezwungen. Bei der Berliner Parkeisenbahn dürfen sich die Täter nicht mehr blicken lassen. Doch wie sorgt die Gemeinschaft der rund 150 Ehrenamtler dafür, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen?

Im November 2011 wurde bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, der die Parkeisenbahn als anerkannter Träger der Jugendhilfe mit rund 16.000 Euro jährlich unterstützt, ein „Runder Tisch Parkeisenbahn“ eingerichtet. Dort guckte man sich den ehemaligen Bezirksbürgermeister Klaus Ulbricht als Eisenbahnbeauftragten aus.

Schon während seiner Amtszeit als Bezirksbürgermeister, berichtet der rüstige 74-Jährige bei einer Tasse Kaffee im Parkeisenbahncafe, lag ihm die kleine Bahn am Herzen – weil sie ein Angebot für technikinteressierte Kinder ist, das sich durch ein überdurchschnittlich hohes ehrenamtliches Engagement auszeichnet. Als Ulbricht als Parkeisenbahnbeauftragter seine Arbeit aufnahm, empfand er die Stimmung unter den Hobby-Eisenbahnern als gedrückt. Sie fühlten sich von den Pädophilen benutzt. „Für viele ist die Bahn der Lebensinhalt“, meint Ulbricht. „Und wenn der so einen Makel bekommt, bricht die Welt zusammen.“

„Vorsicht an der Bahnsteigkante“, warnt eine jugendliche Stimme kurz vor der Abfahrt der Bahn. Sie klingt souverän und dennoch angenehm, eben nicht nach der Routine langer Dienstjahre. Da schenkt man sogar der Ansage Glauben, dass „die Sicherheitsketten von Ihrem freundlichen Zugpersonal geschlossen werden“. Dem Schaffner, einem Jungen mit langem Zopf, zeigt man jedenfalls gerne seine Fahrkarte.

Die erste sichtbare Maßnahme zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs bestand darin, dem damals gerade im Umbau befindlichen Gebäude am Bahnhof „Eichgestell“ viel Glas zu verpassen. „Man kann sich dort nicht mehr verstecken“, sagt Klaus Ulbricht. Nach und nach sollen nun auch die anderen Bahnhöfe so gestaltet werden.

Relativ schnell folgte dann die Anweisung: Kein Kind soll mehr mit einem Erwachsenen allein sein. Als nächstes bot der Verein „Berliner Jungs“ Beratung an. „Dafür interessierten sich zunächst herzlich wenige“, erinnert sich Ulbricht. Die Präventionsveranstaltungen aber mussten alle besuchen – die Kinder, die Jugendlichen, die Erwachsenen und die Eltern. Jeder Zielgruppe erklärten die „Berliner Jungs“, wie Sexualstraftäter vorgehen, welche strukturellen und organisatorischen Möglichkeiten man zustopfen müsse. „Da fand ein Umdenken statt“, sagt Ulbricht. „Anfangs hieß es: Lassen Sie mich in Ruhe, ich habe damit nichts zu tun.“

Im Mai 2012 wurde dann der Geschäftsführer abberufen, nachdem durch die gerichtliche Aufarbeitung bekannt geworden war, dass er seit mindestens zehn Jahren vom Missbrauch wusste, aber nichts dagegen unternommen hatte – um die Existenz der Eisenbahn nicht zu gefährden.

Mittlerweile gibt es drei GeschäftsführerInnen, darunter eine Frau mit pädagogischer Ausbildung, sie kümmert sich um den Bereich Kinder und Jugend. Eine Kinderschutzbeauftragte wurde installiert, man entwickelte einen „Verhaltenskodex zum Kindeswohl“ und ein „Kinderschutzkonzept“, das allen Eisenbahnern etwa ein erweitertes Führungszeugnis abverlangt. Viel Wert wird nun auch auf die Mitsprache aller gelegt, einschließlich der Kinder und Jugendlichen.

Trotz dieser Veränderungen mussten die Eisenbahner bald einsehen, dass sie zwar „Bahn können“, aber eben niemanden haben, der professionell die Kinder und Jugendlichen betreuen kann. Ein Kooperationspartner wurde gesucht und mit der Jugendtechnikschule der Technischen Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft gefunden. Diesem obliegt auch die Fachaufsicht über die beiden Sozialpädagogen, welche künftig die 56 minderjährigen, zumeist männlichen Eisenbahner betreuen – nachdem der Senat in einer versteckten Ecke des Doppelhaushaltes das Geld für diese anderthalb Stellen „gefunden“ hatte, wie es Geschäftsführer Heiko Copius bezeichnet.

Auf einer Rundfahrt durch die grünenden Laubbäume der Wuhlheide berichtet der ebenfalls ehrenamtlich Arbeitende, der selbst ehemaliger Parkeisenbahner ist, dass achtzig Prozent seiner Vereinskollegen hauptberuflich bei der Bahn arbeiten. Er selbst ist Kriminalist beim Landeskriminalamt und kümmert sich in seiner Freizeit um den Bereich Kommunikation der Parkeisenbahn.

Dabei, sagt er, lägen ihm zwei Dinge besonders am Herzen: Er möchte, dass das Thema Missbrauch von allen aufgearbeitet wird und bei der Parkeisenbahn präsent bleibt – es soll nicht mit einem „Das war einmal und ist nicht mehr“ beiseite geschoben werden. Außerdem brauche die Parkeisenbahn dringend Nachwuchs. Zwar hätten infolge des Skandals nur eine Handvoll Kinder ihren Dienst quittiert und die meisten Eltern sehr sachlich reagiert – es gebe aber zu wenig Neuanmeldungen von Kindern ab neun Jahren. „Man hat die Zurückhaltung in der Bevölkerung schon gespürt“, sagt Copius.

Dabei sind die Hobbyeisenbahner wohl diejenigen, die derzeit gut vor Übergriffen geschützt sind. Vielleicht schlüpfen sie bald in eine Vorbild-Rolle – für andere Vereine, in denen das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen noch nicht so genau beleuchtet worden ist.