Nie ganz von dieser Welt

Das Musterbeispiel eines Liederabends: Das Junge Theater präsentierte in der Schwankhalle die großartig-unberechenbare Berliner Chanteuse Cora Frost mit ihrem Liederprogramm „Wir waren auch in Zucker & Butter“

Bremen taz ■ Ganz bei sich. Regungslos. Verzückt im Genuss wie ein Raucher beim Inhalieren seines Lieblingskrauts. Dazu drei Musikanten, die auf ihren Tasten, Saiten und Becken nur die Verstrebungen des Songgerüstes andeuten. In den Minimalismus hineingetupft: Cora Frosts anmutiger Gesang. In devoter Leidenschaft ganz im Dienste von George Harrisons „While my guitar gently weeps“. Musterbeispiel eines Liederabends.

Und recht nah an der somnabulen Intensität, mit der sich die Berliner Chanteuse immer so gern und so geschlechterrollen-verwirrend durchs Repertoire der Liebesthemen und anschließenden Sexualproblematiken schmachtet. Jetzt aber genau damit den Gegenentwurf ihres neuen Chansonrock-Theaterabends definiert. Und so ihr kraftvoll überarbeitetes Konzept verdeutlicht. „Wir waren auch in Zucker & Butter“ heißt das Programm.

Und meint: Entkaramelisiert euch, ihr Mühseligen und Beladenen, schmeißt alles weg, ihr Menschen und Lieder. Wie das geht? Cora Frost animiert, frivol ironisch, das Publikum solle allen Tand des Daseins zu ihr auf die Bühne zu werfen. Während die Sängerin sich beiläufig, abwesend, im Schnoddersingsang ihren Songs nähert – wie langweilig gewordenen, aber guten Freunden. Das wirkt halbherzig, ist aber doppelherzig.

Cora Frost entkleidet die Songs, untertreibt, und überzieht sie dann theatralisch ins Kecke, hüllt sie in schrille Fummel des Obskuren. Jede Darbietung eine Jagd ins Ungewisse. In aller Rasanz werden die eigenen und fremden Lieder vom Naheliegenden, von den Klischees befreit, in der Dynamik für Rollenspiele geöffnet. Von der leidenschaftlichen Abgeklärtheit einer Marlene-Dietrich-Parodie bis zur verzweiflungstrunkenen und sowieso betrunkenen Emphase einer Beth Orton, von der Marilyn Monroe-Sexyness im langsamen Herauswinden des rechten Hüftknochens bis hin zur irrwischend anarchie-willigen Energie der Patti Smith.

Übermütig traumtänzerisch, ratlos am Leben erkrankt. Interpretationen im permanenten Wechselspiel von Suchen und Finden, Verfehlen und neu Behaupten. Dabei feiert Frost mit wendiger Stimme ihre charmant picklige Song-Poesie – und nimmt besonders scharf jede Intonationskurve. Gesangliche Purzelbäume werden zunehmend als Salti inszeniert.

Was Reibungskräfte freisetzt, irritiert. Cora Frost: immer unterwegs, unberechenbar, angreifbar. Nie verbindlich. Nie ganz von dieser Welt. Und so ihre Geheimnisse auch wahrend. Ein brüchiger, aufreibender – großartiger Abend. Der sich nur langsam vermittelt. Lange tanzte das Publikum nur unter den Stühlen, bis es die Künstlerin lautstark feierte. Jens Fischer