: „Die Menschen brauchen keine Moral“
Gunter Schmidt, einer der prominentesten deutschen Sexualforscher, über die Entdramatisierung des Sexuellen, die falsche Kulturkritik an Pornografisierung und die drohende Schließung des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft. Ein Hausbesuch in Hamburg
VON JAN FEDDERSEN
Der Mann geht auf die siebzig zu. Das muss man wissen, ehe man an ihm dieses Alter feststellen möchte. Denn Gunter Schmidt sieht nicht so aus, die Aura des Betagten fehlt ihm krass. Falten im Gesicht, klar. Die Bewegungen etwas zögerlicher als möglicherweise einst. Der Schopf grau, etwas wirr gekämmt. Aber die Augen, das Gesicht überhaupt. Irgendwie patinalos, aufmerksam, wach. Der kann bestimmt sagen, was sexuell Sache ist – was sich geändert hat in all den Jahren seit den Fuffzigern.
Er weiß das genau, er hat mitgearbeitet am Projekt der bürgerlichen Selbstaufklärung, er ist in seinem akademischen Leben einer der prominentesten Sexualwissenschaftler geworden. Hat Bücher veröffentlicht, schon Ende der Sechziger, als die Zeiten in den besseren Kreisen noch prüde, ängstlich und moralisch furchtsam waren. Hat geforscht dafür, empirisch, hat Fakten herausgefunden. Über studentische Sexualität, über die von jungen Industriearbeitern und Jugendlichen, hat sich berichten lassen von tausenden von heterosexuellen Paaren – und seine Beobachtungen zu Papier gebracht.
Es gibt Gründe, Bilanz zu ziehen – denn in Frankfurt soll das Institut für Sexualwissenschaft geschlossen werden (taz berichtete). Herr Schmidt, ist das nötig? „Die Idee überhaupt“, sagt er, „ist total crazy. Die Frankfurter haben Arbeiten geleistet, die heute vielleicht noch niemand in ihrer Güte ermessen kann.“ Schenkt Kaffee nach in seiner Hamburger Wohnung. Auf dem Boden liegt ein fast zerliebtes Stoffnilpferd, an der Wand Regale mit Büchern, im Flur eine Pinwand mit Bildern seiner Familie, seinen Kindern.
Doch, die Frankfurter Querelen mal genau in den Blick genommen, „es kann gerne etwas ganz Neues kommen, nur geschlossen werden darf das Institut nicht“. Sigusch gehe in den Ruhestand – und mit ihm alle alten Kämpen, die den Ruf der modernen Sexualwissenschaft in Deutschland begründeten, Martin Dannecker, Reimut Reiche, irgendwann auch Sophinette Becker.
Schmidt spricht besonnen, so beiläufig wie vielleicht nur einer, der ziemlich viele Jahrzehnte aus eigener Erfahrung kennt. Die Fünfziger, wie waren die? „Verklemmt, prüde, angstvoll. Aber die Repression gab allen Couragierten die Chance, Sexualität als herrliche Form der Rebellion zu nutzen.“ Aber das, was mal ein Skandal war, ist keiner mehr: „Ein Fünfzehnjähriger, der masturbierte, machte dies schuldbeladen und schamvoll – aber er triumphierte über das Verbot.“ Vorbei, passé: Die Süße einer Grenzüberschreitung, das Machtgefühl, es der Gesellschaft mal gezeigt zu haben, schmeckt nicht mehr.
Heute, er teilt dies extracool mit, könne „man von einer Trivialisierung der Sexualität“ reden. Wer masturbiere, tue das als ein Zeitvertreib unter anderen. Das mache gar nichts – wenn Sexualität nicht mehr subversiv sei, könne gegen anderes protestiert werden: „Da gibt es ja genug.“ Er konstatiert: „Es ist ganz einfach. Die Sexualität hat sich von der Ehe gelöst. Damit wird von sexuellen Beziehungen Jugendlicher bis zum gleichgeschlechtlichen Sex gesellschaftlich beinahe alles möglich und akzeptabel.“ Mit dem Verblassen religiöser Sexualmoral, all den Tabus und Gebirgen an schlechtem Gewissen. Die „groteske Überschätzung der Sexualität“ als solcher – die hat ein Ende.
Kulturkritik wie jene des Schriftstellers Michel Houellebecq („Elementarteilchen“), der Achtundsechzig eine Verluderung des Bewusstseins von Verantwortung vorwirft, mag Schmidt nicht: „Das klingt so schlechtgelaunt, so wie auch die Denkfigur von der Verbürgerlichung.“ Bürgerlich, antibürgerlich: „Das sind ideologische Akzente, die heute keinen Menschen mehr ernsthaft interessieren. Was bei Menschen sexuell zählt“, das ist die Essenz seiner Forschungen, „ist das Naheliegende – und das Pragmatische.“ Treue, sexuelle Loyalität, sei schon aus praktischen Gründen als Praxis tauglich: „Promiskuität“, also das ewige, tägliche Suchen nach neuen sexuellen Abenteuern mit Verschiedenen, „ist wahnsinnig anstrengend. Und fast die Garantie, dass die sexuelle Frequenz im Verhältnis zum Aufwand ziemlich gering ist.“ Die, so zitiert er seine jungen Mitarbeiter aus dem Institut für Sexualforschung in Hamburg, „Gesamtvögelmasse“ ist bei Paaren, die einander treu sind, größer als bei Cruisern, homo- wie heterosexuellen.
Aber ist er nicht besorgt angesichts der Pornografisierung des Alltags – all die nackten Körper im Fernsehen, auf Werbetafeln im Straßenbild? „Das sind doch nur die grellen Oberflächen“, sagt er nüchtern. „Als Junge in den 1950ern, als ich bei meiner älteren Schwester mal einen Kunstband sah, darin eine fast nackte Frau, war das schockierend erregend. Aber heute? Jugendliche, wir alle, gucken nicht mehr hin, zappen weg, sind bestenfalls auf eine nette Weise animiert, zum Triebdurchbruch bringt uns das nicht mehr. Insofern hat die so genannte ‚Pornografisierung‘ zu einer Zivilisierung des Sexuellen geführt.“ Der Blick – stumpfer, der Reiz – nicht mehr auf das körperliche Signal allein verlegt, der Umgang mit den Signalen gelassen. Was zähle, sei mehr und mehr die Liebe selbst. Ein romantisches Konzept dominiere den Sex, viel stärker als die Kulturkritik glauben möchte: „Weniger pathetisch: Die feste Beziehung hat die Sexualität fest im Griff, bei Jungen wie bei Alten, bei Männern wie bei Frauen“.
Wobei er sich als Wissenschaftler nicht einbildet, sein Fach habe die großen Linien dieser Liberalisierung bewirkt: „Die Menschen regeln das, wenn keine schuldstiftende Moral sie einzwängt, gut selbst.“ Ohne seine Wissenschaft wäre es kaum anders gelaufen. Schmidts Helden der Liberalisierung der 1970er sind eher der Aufklärungsfilmer Oswalt Kolle und die Sexualartikelversenderin Beate Uhse – der eine „antiautoritär“ in seinen Mühen, Paare zum Sprechen über ihre sexuellen Bedürfnisse zu bringen, die andere, „von Achtundsechzig oft böse verachtet“, weil sie „die Verhütungsfrage gestellt hat“.
„Der Hochmut beiden gegenüber hat mich immer geärgert“: Beide wollten Sexualität entkrampfen – und „keine Theorien für einen Neuen Menschen schaffen“, dem Menschen, der über den perfekten Fick zur Revolution ganz allein kommt. Monströse Ansprüche – Schmidt hat stattdessen als Sexualforscher das Wort von der „Verhandlungsmoral“ etabliert: Es meint den neuen Code, dass die Kirche – oder der Mann – nicht mehr bestimmen, was erotisch geht und was nicht. „Es geht nur, was beiden gefällt – und das ist immer eine Sache des Verhandelns.“ Was aber, Herr Schmidt, ist sexuelles Gelingen? „Ich weiß es nicht. Ich schätze, das hängt von Tag zu Tag von allen möglichen Umständen ab. Und die definiert jeder Mensch selbst. Kein Sexualforscher, kein Medium, kein Porno – und vor allem niemand für alle Zeiten gleich.
In summa, Herr Schmidt, wie würden Sie, sexualwissenschaftlich gesehen, die vergangenen 40, 50 Jahre begreifen? Er überlegt keine Sekunde: „Eine Ära der Entdramatisierung, der Entmystifizierung, der Entpathologisierung …“ Und zögert beim letzten Wort dann doch im Fluss: „Okay, Homosexualität gilt in den Psychiatriebüchern nicht mehr als Krankheit. Aber sie packen die Transsexuellen stattdessen in die Schublade ‚Gender Identity Disorder‘. Das ist problematisch – denn Transsexuelle wissen ganz genau, was sie sind: Mann oder Frau – nur im falschen Körper.“ Trinkt einen Schluck Kaffee, der Abend senkt sich über dieses schöne Wohnviertel, und setzt fort: „Die Pathologisierung kommt über die Hintertür wieder in den Diskurs – über die Gesundheit. Manche reden so über Sexualität, als sei sie vor allem infektiös, Ansteckungsgefahr ihr wesentliches Kennzeichen. Die alte Moral verkleidet sich manchmal als Hygiene – aber ihre Chancen werden dadurch wohl nicht besser.“
Sexualwissenschaft, Psychologie und Soziologie haben keinen guten Stand mehr bei den politischen und kulturellen Eliten der Bundesrepublik – Schmidt weiß das sehr genau. „Das Frankfurter Institut braucht vielleicht einen Neuanfang. Aber es, wie auch immer, stumm zu machen, wäre rational nicht zu begründen.“ Es hieße, die Arbeit an der bürgerlichen Selbstaufklärung zu tilgen. Schmidt sagt dies nicht ausdrücklich – aber er wird es denken, weil es auch seinen Weg mit meint: Er, seine Arbeit, hat Nutzen gebracht. Diesen Beweis müssen andere Wissenschaftsdisziplinen erst mal erbringen.