Der Schwarze Block reiht sich ein

KAMPFTAG In Berlin erreicht die „Revolutionäre 1. Mai Demo“ erstmals die Stadtmitte, friedlich wie nie. Warum?

AUS BERLIN KONRAD LITSCHKO

„Verfluchte Scheiße“, ruft der junge Mann aus dem Lautsprecherwagen, als in der Abenddämmerung die 1.-Mai-Demo der Berliner Linksradikalen vors Brandenburger Tor einbiegt. „Wir haben es wirklich erreicht.“ Eben noch hatte er angekündigt, „unsere Wut ins Regierungsviertel zu tragen“. Jetzt aber stoppt der Aufzug vor den Polizeigittern. Brav. Rote Fahnen werden geschwenkt, einige tanzen zu „Bella Ciao“. Kein Stein fliegt, kein Böller, nichts.

Schon zuvor hatte sich über die gut 10.000 Leute eine fast ungläubige Stille gelegt. Dann war klar: Erstmals seit vielen Jahren erreicht die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“, bundesweit bekannt für fliegende Flaschen und brennende Autos, tatsächlich das Ende ihrer Route. Von Kreuzberg bis in die Stadtmitte. Und: Auch in Hamburg blieb es vergleichsweise ruhig. Ist der autonome 1. Mai erledigt?

In Berlin geraten die Krawalle schon seit 2010 mehr und mehr zur Randerscheinung. Diesmal blieben auch im Vorfeld Autobrandstiftungen und „Chaoten“-Debatten aus. Als sich die Linksradikalen am Abend in Bewegung setzen, schert nur an einer Stelle der Schwarze Block aus, Steine fliegen auf Polizisten und in eine Sparkassenfiliale, ein Auto kippt um. Aber dann?

Die Polizei umschließt den Zug mit einem engen Spalier, aber sie lässt ihn weiterlaufen. Die Autonomen ziehen die Vermummung wieder aus dem Gesicht. Selbst als sie das Finanzministerium oder die Hochglanzläden in der Stadtmitte passieren, passiert nichts. Sie wissen: Jetzt gibt’s nichts mehr zu holen, ohne gleich verhaftet zu werden.

Der Wandel des 1. Mai aber geht übers Situative hinaus. Nicht zufällig läuft erstmals nicht der Schwarze Block, sondern eine Delegation aus Griechenland an der Demospitze. Unvermummt und gemächlich-unaufgeregten Schrittes. Oppositionspolitiker wie Yannis Stathas, Hemd und grauer Vollbart, der die Gewaltfrage absurd findet. „Das ist ein angemessener Widerstand von jungen Leuten für die Menschlichkeit“, sagt der Syriza-Abgeordnete und Gewerkschafter. Er freue sich über die Vernetzung.

Die autonome Szene differenziert sich aus. 2009 flogen zuletzt in Berlin zigfach Steine, auch Brandsätze. In Heiligendamm randalierten Militante gegen den G-8-Gipfel – während andere mit Fähnchen in Kleingruppen bis vor den Tagungszaun zogen. Interventionistische Linke nennen sie sich. Pragmatische Postautonome, die auf zivilen Ungehorsam setzen. In Dresden blockieren sie mit Bürgern Neonazis, im Wendland schottern sie mit Bauern Castorgleise.

Das färbt nun auch auf den 1. Mai ab. Es waren Interventionisten, die am Vormittag mit einer Betonpyramide einen Aufmarsch der NPD in Berlin-Schöneweide verzögerten. Und die „Revolutionäre Demo“ mausert sich in der Stadt zur größten am 1. Mai, stellt selbst den Aufzug der Gewerkschafter in den Schatten. Mietenprotestler, Kurden, Flüchtlinge, die Ver.di-Jugend und Familien laufen mit. Der Schwarze Block ist nur einer unter vielen. Die Zeit, in der er die Demo bestimmte, ist vorbei.

Nicht allen schmeckt das. In der Nacht zum 2. Mai setzten Linksmilitante einen Kabelschacht an Bahngleisen im Westen der Stadt in Brand. In ihrem Bekennerschreiben kritisieren sie die „Festung Europa“, aber auch die „totgelaufene“ Demo in der „aufstandsgesicherten Regierungsmitte“. Die Polizei hält der Anschlag am Donnerstag nicht davon ab, eine neue Erfolgsbilanz zu verkünden: Nur 54 verletzte Beamte am 1. Mai und dem Vorabend, ein Minusrekord ebenso wie die 94 Festnahmen. Von denen die meisten wohl besoffene Besucher des Kreuzberger Myfestes traf, die nachts noch Flaschen warfen.

Die Autonomen waren da längst im Feierabend. Morgens NPD-Blockade, abends die längste Demo seit Jahren – das steckte nicht wenigen in den Knochen. Auch das war am Ende Teil der Befriedung.