Das Sterben der Kamele

BELUTSCHISTAN Die großartigen Erzählungen des späten Debütanten Jamil Ahmad spielen im Bergland zwischen Pakistan und Afghanistan

Eine Welt, deren archaische Werte auch von ihren Opfern niemals in Frage gestellt werden

VON KATHARINA GRANZIN

Kürzlich hätte Jamil Ahmad nach Deutschland kommen sollen, um aus seinem literarischen Debüt zu lesen. Doch das für die lit.cologne geplante Event musste sehr kurzfristig wieder abgesagt werden, da der Autor sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte. Immerhin ist er 81 Jahre alt. Schon aufgrund seines Alters wird er überall als Phänomen gefeiert. Die Südasienkorrespondenten müssen geradezu Schlange gestanden haben vor dem pakistanischen Anwesen von Jamil Ahmad und seiner aus Bayern stammenden Frau Helga, sogar dpa war schon da.

Spiegel Online erklärte den betagten Debütanten gar zum „Sensations-Autor“. Und allem reißerischen Unsinn zum Trotz, der überraschende literarische Entdeckungen häufig zu begleiten pflegt, trifft die Begeisterung dieses Mal zumindest nicht den Falschen – wenn Jamil Ahmad auch kein ganz so später Debütant ist, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Er hat seinen Zyklus von Erzählungen, der jetzt unter dem Titel „Der Weg des Falken“ auf Deutsch herausgekommen ist, schon vor fast vier Jahrzehnten verfasst.

Ahmad, der damals als Beamter der pakistanischen Administration in den entlegenen Stammesgebieten tätig war, schrieb in seiner Freizeit zu seinem reinen Vergnügen – statt Schach zu spielen, wie er den Reportern erklärte, die ihn besuchten. Allein: Veröffentlichen wollte die Erzählungen damals niemand. Frau Helga habe das Manuskript über all die Jahre gehütet, und sein Bruder war es, der ihn vor fünf Jahren überredete, es zu einem Literaturwettbewerb einzusenden. Vor zweieinhalb Jahren erschien die erste Erzählung im Pakistan-Themenband der britischen Literaturzeitschrift Granta (s. taz vom 2. 12. 2010). 2011 kam der gesamte Erzählzyklus als eigenständige Veröffentlichung bei Penguin heraus.

Was die literarische und außerliterarische Öffentlichkeit an Ahmads Geschichten gleichermaßen fasziniert, ist ihr Gegenstand. Sämtliche Erzählungen spielen in Belutschistan, der Grenzregion zwischen Pakistan, Afghanistan und Iran, im Stammesgebiet, wo stationiert zu sein andere pakistanische Staatsdiener als Zumutung empfinden. Nicht so Jamil Ahmad, der viele Jahre lang freiwillig dort Dienst tat, auch Pashto lernte, um mit der örtlichen Bevölkerung kommunizieren zu können, und in seiner bayerischen Frau eine entbehrungswillige Gefährtin gefunden hatte, die ihm den Rücken freihielt.

Ahmads Faszination für die archaische Lebensweise der Bewohner Belutschistans hat sich auf äußerst fruchtbare Art in seinen Erzählungen niedergeschlagen. Sie geben Einblicke in eine sehr fremde Welt, wobei der Autor sich nicht zurückzieht auf die sichere Erzählposition eines externen Beobachters, sondern seine Geschichten perspektivisch sehr nah bei ihren Protagonisten verankert. Diese wechseln von Erzählung zu Erzählung, einer jedoch, einem flüchtigen Leitmotiv gleich, zieht von Ort zu Ort, von Geschichte zu Geschichte, fast durch das gesamte Buch: der programmatische „Falke“ des Buchtitels.

Schicksal des Jungen, der lange Zeit namenlos ist und später den Namen „Tor Baz“, „schwarzer Falke“, nach einem anderen Jungen erhält, der getötet wurde, ist die ewige Unbehaustheit. Sie wird bereits in der ersten Erzählung, „Die Sünden der Mutter“, eindrucksvoll etabliert. Geboren als Sohn eines Paares, das kein Paar hätte sein dürfen, bleibt das fünfjährige Kind allein in der Wüste zurück, nachdem die Eltern von Angehörigen ihres Stammes ermordet worden sind. Dort wird es zunächst von Nomaden gefunden, die bald darauf vom pakistanischen Militär erschossen werden, dann von einem Offizier adoptiert, der den Jungen bei der Rückkehr in sein Dorf wieder loswerden will. Ein wandernder Mullah nimmt ihn mit sich.

Nachdem der Geistliche im Wahnsinn einen anderen Jungen getötet und ausgeweidet hat, wächst der Elternlose bei den Eltern des Getöteten auf, bis er als Halbwüchsiger in der Lage ist, seiner Wege zu gehen. Tor Baz lebt in einer mitleidlosen Welt. Einer Welt, die uns grausam erscheint, deren archaische Werte jedoch auch von denen nicht in Frage gestellt werden, die ihnen zum Opfer fallen. Noch grausamer aber als die alten Regeln von Stammes- und Mannesehre sind jene des pakistanischen Militärs.

Ahmads Erzählungen künden auch von der erbarmungslosen Verfolgung der Nomadenvölker, die seit alters mit ihren Herden in den Bergen umherziehen und auf einmal die Staatsgrenzen nicht mehr passieren dürfen. Warum eigentlich ist das Sterben der Kamele, eben in der Erzählung „Das Sterben der Kamele“, berührender als das Sterben der Menschen, das in diesen Erzählungen auch allerorten passiert? Vielleicht darum, weil das Besondere an diesen Menschen ist, dass sie mit ihrem Tod jederzeit rechnen.

Natürlich sollte man nicht den Fehler machen, die Welt aus den Erzählungen des Jamil Ahmad mit dem wahren Belutschistan zu verwechseln. Aber die Literatur kennt eine eigene Realität, die nicht weniger wahr ist. Die Wahrheit dieser Erzählungen liegt in Ahmads klarer, reduzierter Sprache, in dem genauen Blick aufs sprechende Detail, in den schwebenden narrativen Lücken, die sich zwischen den lose zusammenhängenden Erzählungen auftun, als wären sie benachbarte Berggipfel. Es ist sehr angemessen, diese Landschaft mit einer gewissen Ehrfurcht zu durchwandern.

Jamil Ahmad: „Der Weg des Falken“. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013. 187 Seiten, 19,99 Euro