Rechtsfreier Raum: Moskau versumpft

JUSTIZ Putin rächt sich mit Massenverhaftungen an seinen Kritikern. Der Feldzug trifft unpolitische Landsleute ebenso wie Bürgerrechtsaktivisten

MOSKAU taz | Am 6. Mai 2012, einen Tag vor der dritten Amtseinführung Präsident Wladimir Putins, gingen mehr als 50.000 Menschen gegen dessen Rückkehr in den Kreml auf die Straße. Friedlich und gut gelaunt zog der Demonstrationszug zum Ort der Abschlusskundgebung auf dem Bolotnaja Platz – einen Steinwurf vom Kreml entfernt. Dort hatten sich die Politiker auf ihre Weise auf die Proteste vorbereitet: Aus Wladiwostok vom anderen Ende Russlands waren eigens 12.000 Polizisten der Sondereinheiten des Innenministeriums nach Moskau verlegt worden. Die Verantwortlichen trauten den Sicherheitskräften der Hauptstadt offenbar nicht.

Noch bevor die Demonstranten den Bolotnaja-Platz erreichten, stoppte sie die Polizei. Aus einem harmlosen Handgemenge entstand eine Straßenschlacht. Im Rückblick lieferte die Prügelei einen Vorwand, gegen die Opposition hart durchzugreifen und alle Unzufriedenen pauschal zu kriminalisieren.

Provokateure sorgten für Gewalt bei den Protesten

Das harte Vorgehen der Polizei stieß damals schon auf Unverständnis. Eine Untersuchungskommission, der zwei Dutzend Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens angehören, legte nun kürzlich einen Bericht vor, der den Vorwurf der Ermittler widerlegt, die Organisatoren des Marsches hätten es bewusst auf eine „massive Störungen der öffentlichen Ordnung“ abgesehen.

Nach Auswertung von Video-, Bildmaterial und 600 Zeugenaussagen gelangte die Kommission zu dem Ergebnis: Gewalt wurde nicht nur in Kauf genommen, sie war Teil einer Inszenierung, in der der Sicherheitsapparat Regie führte. Mit zu den Verfassern des Berichtes gehörten die Menschenrechtlerin Ludmila Alexejewa und Exwirtschaftsminister Jewgenij Jassin.

Unter „Bolotnoje delo“ – der Fall Bolotnaja – läuft seit vergangenem Sommer ein Feldzug der Strafermittlung gegen Dutzende Demonstranten. Bislang wurden 27 festgenommen, 17 von ihnen sitzen seit Monaten in U-Haft, andere erhielten Hausarrest. Zwei bekannten sich nach massivem Druck schuldig. Ein falsches Geständnis brachte den Delinquenten vier Jahre weniger Haft ein, sonst hätten ihnen acht Jahre Lager gedroht.

Alexander Dolmatow, ein Aktivist der linken Bewegung Anderes Russland, floh unterdessen in die Niederlande. Im Januar beging er Selbstmord, weil er abgeschoben werden sollte. Im Internet kursiert indes noch eine Fahndungsliste mit mehr als 80 „potenziellen Umstürzlern“. Die Ermittler werden diese noch abarbeiten, fürchten die Organisatoren des Komitees 6. Mai.

Das Spektrum der Bürger im Fadenkreuz reicht weit: von der unpolitischen Rentnerin, die mit einer leeren Plastikflasche einem hochgerüsteten Polizisten eine Prellung zugefügt haben soll und zu Hause im Arrest sitzt, bis zu Aktivisten der Linken Front. Wie viele Ermittler an der Suche nach „Aufständischen“ beteilig sind, ist ein Geheimnis. Es dürften jedoch weit über hundert sein, die aus anderen Regionen ab- und zur Verstärkung in Moskau zusammengezogen wurden.

Seit fast einem Jahr sichten sie Videomaterial und stöbern im Internet nach Verdächtigen. Angeblich sollen sich auch Moskauer Beamte geweigert haben, an den Vorarbeiten eines neuen „Schauprozesses“ wie in den 1930ern mitzuwirken. „Bolotnoje delo“ bedeutet auf Deutsch: sumpfige Sache. Zunächst war es nur ein Toponym, ein trockengelegter Sumpf vor den Mauern des Kremls. Inzwischen beschreibt es den Zustand eines rechtsfreien Raumes. Moskau versumpft.

KLAUS-HELGE DONATH