Mit Lernchancen zu Teilhabe und neuer Gerechtigkeit

Grüne, Sozial- und Christdemokraten testen, zunächst rhetorisch, neue Sozialstaatsmodelle. In allen spielt Bildung eine konstitutive Rolle

„Man muss eigentlich alles vergessen, was man vorher gedacht hat.“ Der junge Mann, der das sagt, ist ein bisschen konsterniert. Und überrascht, welche neuen politischen Möglichkeiten sich plötzlich auftun. Er heißt Robert Habeck und ist einer von zwei Sprechern, also Vorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein. Sein „Alle sind erst mal perplex“ zielt auf das neueste Papier, das die grünen Vor- und Querdenker von der Heinrich-Böll-Stiftung wieder ausgeheckt haben und gestern Abend auf der Galerie der Stiftung am Berliner Hackeschen Markt vorstellten.

Wer hätte das schon gedacht, dass grüne Kreise einmal versuchen würden, sich ein urkapitalistisches Dach über ihre vielen bürgerrechtlichen Einzelzimmer zu bauen. Jeder, in Worten jeder, Jugendliche bekommt 60.000 Euro Startkapital. Für sein Leben. Diese Aktie, dieser Anteil an der Gesellschaft soll ihm helfen, über Schule und Uni den Weg ins berufliche und ins richtige Leben zu finden. Und er soll, zumindest einen Teil, für die eigene soziale Absicherung verwenden. Das Ganze kostet die Kleinigkeit von 30 Milliarden Euro – jährlich, wie Gerd Grözinger, Michael Maschke und Claus Offe in ihrem Papier „Teilhabegesellschaft“ ausrechnen.

Eigentlich ist der Begriff nicht ganz korrekt, es müsste Teilhaber darin heißen. Nur so lässt sich ausdrücken, wie revolutionär das Papier ist (auch wenn es auf einer Idee der US-AutorInnen Bruce Ackermann und Anne Alstott von 2001 beruht, beides ProfessorInnen in Yale). Und nur so lässt es sich abgrenzen von der ein wenig abstrakteren Teilhabegesellschaft, die seit einiger Zeit bei den Sozialdemokraten umherschwirrt. Denn nicht nur die von der Regierungslast befreiten Grünen denken wieder nach. Auch bei der SPD und der Union verändert sich das Gesellschaftsbild grundlegend. Und Bildung spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Beispiel SPD: Es muss bei der einstigen Arbeiterpartei ja etwas passiert sein, wenn ihre Bundestagsabgeordneten Sätze wie diesen sagen: „Die wesentliche Verteilungsfrage ist heute nicht mehr die von Sozialtransfers, sondern von Bildungschancen.“ Immerhin stammt Ulla Burchardt, die das vergangene Woche in der taz als Argument gegen Kombilöhne formulierte, aus der Herzkammer der Sozialdemokratie, aus Dortmund.

Und Burchardt ist keine Orchidee, die im Verborgenen blüht. Es ist nicht allzu lange her, da schrieb einer ihrer Parteifreunde eine interessante Gesellschaftsreportage aus der finnischen Stadt Jyväskylä. Die Botschaft des Textes heißt „Das Kapital ist im Kopf“. Er beschreibt nicht nur das famose finnische Bildungssystem und sein Prinzip des „niemanden zurücklassen!“ Sondern erläutert, wie eine wissensbasierte Ökonomie ganz konkret vor Ort aussieht, wie das Weltunternehmen Nokia nach Jyväskylä geht, wie Unternehmen und Bildungsinstitutionen zusammenarbeiten. Die beigefügten Fotos von 2004 zeigen einen gewissen Matthias Platzeck beim Besuch einer Grundschule. Heute ist Platzeck Vorsitzender der SPD – und lässt seinen Generalsekretär gerne vom skandinavischen Sozialstaatsmodell schwärmen.

Beispiel CDU: Als die Kanzlerinpartei sich vergangene Woche in Mainz zu einer Klausur verabredete, kam das übliche Neujahrsblabla samt Promotion für den örtlichen Spitzendkandidaten Christoph Böhr heraus. Und eine Überraschung: Alle Unionsleute, die seit Jahren den Terminus Bildungschancen meiden wie der Teufel das Weihwasser, haben plötzlich die Einrichtung einer Kommission beschlossen – und das Tabuwort prangt plötzlich auf dem Titel.

Die neue AG soll aber nicht etwa ein Teilprojekt erarbeiten, sie steht konstitutiv für die Idee der neuen Gerechtigkeit der Union. „Noch immer entscheidet die Herkunft eines Menschen erheblich über seine Bildungschancen“, steht in der Begründung für das geplante neue Grundsatzprogramm der CDU. „Deshalb ist es gerecht, dass die CDU nach Wegen sucht, diesen Missstand zu beenden.“

Zumindest rhetorisch ist das schon nicht viel schlechter als bei grünen Vordenkern und Sozialdemokraten. CHRISTIAN FÜLLER