Der Rollstuhl schweigt eisern

Exzwangsarbeiterin bringt Grunewalder Großbürger in die Bedrouille: Elisabeth Herrmann ist mit „Das Kindermädchen“ ein leichtfüßig schlauer Politkrimi gelungen

Joachim hat es fast geschafft. Er bräuchte nur noch „Ja“ zu sagen – dann wäre Sigrun Zernikow, die reiche, adlige, gut aussehende Stellvertretende Bürgermeisterin von Berlin und Senatorin für Familie und Soziales seine Gattin. Durch seine Zukunft könnte er dann wahlweise mit dem Porsche, dem Jaguar oder dem Mercedes aus der Garage des Grunewalder Familienanwesens rauschen; und mit dem großzügigen Salär aus Schwiegerpapas Anwaltskanzlei ließe sich mindestens der regelmäßige Lunch im Borchardt’s bequem finanzieren.

Es könnte alles so schön sein, wäre da nicht dieser klitzekleine dunkle Fleck in der Familiengeschichte seiner Zukünftigen. Der Fleck heißt Natalja und arbeitete im Dritten Reich als Zwangs-Kindermädchen für die Zernikows. Sie war, wie man in Elisabeth Herrmanns Roman erfährt, eines von rund hundertsechzigtausend Mädchen, die ab 1942 aus Polen oder der Ukraine verschleppt wurden und in Deutschland für kinderreiche Familien und Verwandte hochrangiger NSDAP-Parteimitglieder schufteten.

Nicht nur Joachim lernt im Lauf der Geschichte eine Menge über das Schicksal dieser Frauen. Von Zwangsarbeitern in Fabriken oder in der Landwirtschaft hat jeder gehört – von Ostarbeiterinnen in Privathaushalten nicht unbedingt. Die rbb-Journalistin Elisabeth Herrmann stieß in einem Zeitungsartikel auf das Thema. Das Interesse ihres Ich-Erzählers Joachim erwacht, als eine alte Frau namens Olga bei den Zernikows auftaucht, sich als Freundin Nataljas vorstellt und um eine Entschädigung für das einstige Kindermädchen bittet.

Doch so kurz vor den Wahlen, durch die Sigrun in die Senatsverwaltung für Inneres aufzusteigen hofft, sind die Herrschaften darüber gar nicht amüsiert. Vor allem die alte Freifrau von Zernikow in ihrem eleganten Rollstuhl gibt Joachim recht freimütig zu verstehen, was sie von ihm und seinen Nachforschungen hält: „Sie haben ja noch nicht einmal gedient.“ Was für ein Zufall, dass Olga plötzlich tot im Landwehrkanal gefunden wird.

Joachim entwickelt sich bei seinen Ermittlungen gegen diese nette Familie zu einer wahren Miss Marple der Nazi-Enttarnung. Dabei ist er weiß Gott kein linker Widerständler: Seine wilden Zeiten in Kreuzberg liegen Jahre zurück; eigentlich quält er heute lieber seinen Praktikanten, während seine alte, sich von verschimmeltem Apfelkuchen ernährende Mutter in ihrer Wohnung verwahrlost.

Klugerweise macht Herrmann gerade diesen Schnösel zur Identifikationsfigur, sogar zum Sympathieträger ihres Krimis – ihn und nicht Eckhardt Schmiedgen, den gealterten Staranwalt der verfolgten Linken, der bei der erstbesten Gelegenheit zu den besser zahlenden Konservativen überläuft. Und auch Joachims linksradikale Exkommilitonin Marie-Luise, die ihm bei seinen Nachforschungen zur Seite steht, ist eher als absurde Figur denn als Heldin angelegt. Der Schnösel aber bessert sich: Er riskiert seinen Porsche, seine Beziehung, selbst sein Leben, als ihm das eisige Schweigen der Zernikows immer komischer vorkommt. Irgendwann zieht er sogar wieder bei Mutti ein – ein neuer, wahrer Integrer wird aus ihm, aber lange noch kein gutmenschelnder Moraldepp.

Herrmanns zweiter Roman nach „Mondspaziergänge“ (1998) ist ihr erster Krimi. Dass sie das Genre auf Anhieb im Griff hat, beweist ihr erstklassiges Krimizubehör: Mit witzigen Dialogen, unerwarteten Wendungen, wilden Schießereien, Verfolgungsjagden und nicht zuletzt der Furcht einflößenden alten Schachtel im Rollstuhl gelingt es ihr, in unterhaltsamster Weise von einem traurigen Kapitel der Nazizeit zu erzählen, ohne das Thema zu verharmlosen. Dazu ein sich entwickelnder Held, vor allem aber ein einnehmend spielerischer, gleichwohl differenzierter Umgang mit der Frage, was Political Correctness ist – mehr kann man von einem Krimi wirklich nicht erwarten.

BRIGITTE PREISSLER

Elisabeth Herrmann: „Das Kindermädchen“. Rotbuch, Hamburg 2005, 433 Seiten, 19,90 €