Der Augenblick der Konzentration

HOMMAGE II Evelyn Richter, die Grande Dame der sozialdokumentarischen Fotografie der DDR, ist 80 Jahre alt geworden

Ihre Bilder sind Gesprächsstoff, sie ist eine Instanz, ein Vorbild selbst für die Generation, die Anfang der Achtzigerjahre den Wahrhaftigkeitsanspruch der Fotografie gegen das formale Experiment eintauscht

VON ROBERT SCHIMKE

Von Evelyn Richter wird erzählt, sie sei vor einigen Jahren zu Gast auf dem Fotofestival in Arles gewesen. Die Fotografin hatte, 75-jährig, gerade ihre erste große Museumsschau im Leipziger Museum der bildenden Künste hinter sich, mit nennenswerter Resonanz erstmals auch in westdeutschen Medien. In Arles wurde sie von einer prominenten Kollegin aus dem Westen angesprochen: „Ach, man kennt Sie jetzt. Jetzt muss ich Sie ja grüßen.“

Die schmallippig vorgetragene Anerkennung wirft ein Schlaglicht darauf, wie Richter Zeit ihres Lebens Aufmerksamkeit immer nur dosiert zuteil wurde. Die Frau, die als Gesicht der sozialdokumentarischen Fotografie der DDR gelten darf und die mit ihren Bildern mindestens zwei Generationen ostdeutscher Fotografen prägte, arbeitete ihr Leben lang so gut wie ausschließlich im Eigenauftrag und „für die Kiste“.

Die Kulturbürokratie der DDR mochte ihre schwarz-weißen Zeitenbilder nicht, weil sie dem Menschenbild der Aufbaupropaganda widersprachen. Und dem Westen waren die Fotografien, als sie sich nach 1989 in die Bilderflut der freien Welt einreihen konnten, zu melancholisch. Melancholie, ja was denn sonst?, würde Richter vielleicht sagen angesichts ihres lebenslangen Projekts, mit der Kamera die Versuche von Menschen zu bannen, sich gegen Arbeitswelt, Gesellschaft und den Lauf der Welt zu behaupten.

Am 31. Januar ist Evelyn Richter 80 Jahre alt geworden. In Bautzen geboren, erlernt sie als 18-Jährige das Porträthandwerk bei Pan Walther, einem bekannten Dresdner „Lichtbildner“ in der Tradition Hugo Erfurths. Das Statuarische jener Porträtfotografie streift sie später ab, stattdessen wird der „entscheidende Moment“ zum Thema ihres künstlerischen Lebens.

1953 beginnt sie ein Fotografiestudium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Knapp zwei Jahre später fliegt sie von der Akademie. Ihr unbotmäßiges Auftreten gegenüber den Schulautoritäten, ihre bürgerliche Herkunft und die Porträts, die sie von ihren Kommilitonen macht, bringen ihr den Rauswurf ein. Die traurig-ernsten oder wahlweise aufmüpfigen Posen der jungen Individualisten gelten als defätistisch.

Ihren Anspruch, gegen die Bildpropaganda der DDR anzufotografieren, schärft sie daran. In der Behauptung, die Wirklichkeit abzubilden, „wie sie wirklich ist“, beruft sich Richter auf die amerikanische Life-Fotografie und die Arbeiten der Fotoagentur Magnum. Den Authentizitätsbeweis erbringt sie mit dem schwarzen Negativrand auf ihren Vergrößerungen: Seht her, ich habe nichts manipuliert, keinen Bildausschnitt ausgesucht, alles ist echt.

Als Beobachterin, die möglichst unbemerkt bleiben will, fotografiert sie vom Hintergrund aus: ohne Blitz und mit einer Kleinbildkamera der Marke Leica. Ihre berühmten „Arbeitsporträts“ von David Oistrach macht sie aus dem Orchestergraben heraus, fast ohne Licht, auf grobkörnigem Film – und kommt dem Dirigenten fotografisch so nah wie sonst kaum jemand.

Oistrach, später der Komponist Paul Dessau, weitere Künstler und immer wieder Menschen in Ausstellungen: Das sind neben Stadtbildern und Porträts von fahrenden Menschen und Menschen am Arbeitsplatz ihre Hauptthemen.

Ihr fotografischer roter Faden: eine große Empathie den Abgebildeten gegenüber, Melancholie und die Verdichtung des Bildes zum Sinnbild. Auf einer Fotografie von 1972 schippert ein Kahn namens Traumland aus dem Dunst kommend an der Berliner Museumsinsel vorbei. Der Betrachter muss die Mauer ahnen, die nur wenige hundert Meter von der Szenerie entfernt das gescheiterte Traumland umgibt.

1980 erscheint Richters Buch „Entwicklungswunder Mensch“, für das sie Kleinkinder fotografiert. Vor dem Hintergrund der sozialistischen Erziehungsdiktatur erfasst sie die überzeitlichen Momente der Kindheit und pflegt so jenen fotografisch-anthropologischen Universalismus, den sie vermutlich kennenlernte, als sie 1955 in Westberlin Edward Steichens Ausstellung „The Family of Man“ sah.

Leben allerdings muss sie in all dieser Zeit von Brotberufen bei der Leipziger Messe. Erst 1981 kehrt sie als Dozentin an die Leipziger Hochschule zurück. Trotz ihrer jahrelangen Abwesenheit, so beschreiben es ihre Kollegen und Schüler, ist sie an der Akademie stets anwesend: Ihre Bilder sind Gesprächsstoff, sie ist eine Instanz, ein Vorbild selbst für die Generation, die Anfang der Achtzigerjahre den Wahrhaftigkeitsanspruch der Fotografie gegen das formale Experiment eintauscht. Während der Montagsdemos im Oktober 1989 verteilt sie lichtempfindliche Filme an ihre Studenten. Manches Dokument aus diesen Tagen verdankt sich dieser praktischen Tat.

Vor wenigen Monaten hat Richter rund 750 ihrer Arbeiten als Vorlass an das Leipziger Museum der bildenden Künste gegeben. Und das Dresdner Leonhardi-Museum zeigt seit letzter Woche Fotografien von Richter mit dem Schwerpunkt Dresden. An beiden Orten ist die Verdichtung von Bildern und Ideen zu erfahren, die Richters Bilder kennzeichnen. Dass einige ihrer Bilder dabei frappierende Wiedergängerqualitäten haben, gehört zur Ironie der Geschichte. Das Foto eines verlassenen Bahnhofs mit dem sprechenden Namen Warthe, aufgenommen 1968, rückt angesichts der schrumpfenden ostdeutschen Provinz problemlos in die Gegenwart auf.

■ Bis 5. April, Leonhardi-Museum Dresden in Zusammenarbeit mit der Ostdeutschen Sparkassenstiftung sowie dem Evelyn-Richter-Archiv der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der bildenden Künste Leipzig