An jeder Ecke gabs Gedichte

Stehen auf Mahnwachen strengt ihn an, und zum Wortesuchen nimmt er sich heute mehr Zeit. Aber sonst merkt man ihm die 85 nicht an: Otmar Leist, Autor und Friedensaktivist, feiert Geburtstag

Bremen taz ■ Otmar Leist kneift die Augen zu. Das hilft beim Konzentrieren. „Ich ahne, wo das Wort ist“, kündigt er an. Sobald er die richtigen Worte gefunden hat, sagt er Sätze wie gemalt. Wie ein grober Holzschnitt oder wie ein ganz leicht sentimentales Aquarell.

„Ich bin verliebt in diese grau-silberne Atmosphäre“, sagt er zum Beispiel über die Protagonistin seines neuen Gedichtbandes „Unter schräger Sonne“: die „kieselharte Kaufmannsstadt“ Bremen. Obwohl die Sonne es hier nie weit über den Horizont schafft und das kühle Gemüt der Norddeutschen anschmilzt, hat Otmar Leist es hier 85 Jahre ausgehalten. Am Montag wird sein Geburtstag in der Stadtbibliothek groß gefeiert.

Urgestein der Friedensbewegung, seit der kalten Kriegszeit Freund von DDR-Autoren und in Gefahr, „vom gehässigen Bürgertum als Kommunist denunziert zu werden“, wie er das verschmitzt grinsend nennt: Wie kommt es, dass er kein Enfant terrible Bremens geworden ist? „Die Leute mögen mich. Die lesen gar nicht, was ich schreibe. Die denken, der ist ein netter Kerl, der jedes Jahr ein Buch schreibt.“ Otmar Leist springt aus seinem Sessel und geht einen Schnaps holen. Für sich selbst bringt er keinen mit. „Ich habe mir schon in der Küche einen Eierlikör hinter die Binde gekippt“, verkündet er munter.

Geschrieben hat er schon immer. Als er nach dem Krieg die verhasste Uniform in die Ecke warf, beeindruckte ihn Transzendentes von George und Rilke. Er schlug sich mit Jobs durch und flüchtete mit FreundInnen in die Natur. Raus aus der „männischen“, verregelten Soldatenwelt, hin zu Mutter Erde, Windsbraut und Wetterhexe. Doch: „George und Rilke haben nicht geholfen, die Probleme der Zeit zu lösen.“ Also wandte er sich Brechts realistischer Sicht der Dinge zu und – schockiert von der Wiederbewaffnung unter Adenauer – der Friedensbewegung.

Statt „Dichter“ hat sich Otmar Leist in einem Gedicht einmal „Spracharbeiter“ genannt. Der Schreibtisch eines solchen Arbeiters steht auf der Straße. Als die Studenten auf Bremens Straßen demonstrierten, war Otmar Leist mittendrin. „Damals gab es an jeder Ecke Gedichte“, erzählt er. Sein Freundeskreis hat sich in dieser Zeit drastisch verjüngt. Die Freunde aus seiner Generation, längst im etablierten Bürgertum angekommen, schüttelten den Kopf und verstanden nicht, dass Kunst und Politik für ihn zusammengehörten.

Einmal begegnete er bei einen Schriftstellertreffen Erich Fried. Der Lyrik-Star hörte sich fast zwei Stunden lang Leists Lesung an. „Ich weiß nicht, was er gedacht hat. Gesagt hat er jedenfalls nichts“, seufzt Otmar Leist. „Das ist so, wenn man als Autor in der zweiten Reihe steht.“

Ein abgegriffenes Taschenbuch aber hat er stets in Reichweite: Den Reader zur Bonner Großkundgebung 1981 gegen die Stationierung von Atomraketen, mitherausgegeben von Heinrich Böll. Sein Auftritt vor fast 300.000 Menschen war für Leist ein Höhepunkt und gleichzeitig ein Wendepunkt seiner Karriere. Noch im gleichen Jahr ließ ihn sein Verleger fallen, der ihn zuvor „auf Händen getragen“ hatte. Dieser Verleger hatte früh erkannt, dass politisch ein neuer Wind wehte. Leist aber ist der Friedensbewegung und ihren Protestformen treu geblieben. „Ich kann nicht mehr so lange stehen auf Mahnwachen, aber ich werde nicht aufhören, die Dinge falsch zu finden.“ Es gibt irgendwo eine Kundgebung? „Wenn ihr mich wollt, dann komme ich.“ Annedore Beelte

Buchpräsentation am 16.1., 20 Uhr, Zentralbibliothek