Warnender Rotschopf

Sylke Enders’ Film „Hab mich lieb“ zeigt, wie sich Menschen nicht in den Rollen zurechtfinden, die sie im Leben spielen. Bei der Premiere im Central-Kino waren die Schauspieler kaum wiederzuerkennen

VON DIETMAR KAMMERER

Franziska Jünger sieht in echt viel netter und umgänglicher aus als auf der Leinwand. Sie hat auch keine knallroten Korkenzieherlocken mehr, auf der randvoll besetzten und prächtig gelaunten Premierenfeier am Mittwochabend im Central-Kino. Sondern langes, glattes blondes Haar. Wie damals in „Kroko“, bloß nicht so streng nach hinten zusammengebunden.

In Sylke Enders’ „Hab mich lieb“ trägt Franziska Jünger als Kalli ihren Lockenkopf dagegen stets wie ein Warnschild mit sich herum. Und auch die dicke Winterjacke mit Fellbesatz erinnert eher an eine Trutzburg. Ohnehin ist Kalli im Einschüchtern sehr gut, aber auch im plötzlichen Draufloslachen und Albernsein. Zu dem Jungen, den sie endlich in ihr Bett abgeschleppt hat, sagt sie: „Komm, wir tun mal so, als wollten wir glücklich sein.“ Aber sie sagt es auf eine Art, dass man nicht recht weiß, ob Kalli ihr wahres Glücklichsein damit überspielen oder eher vertreiben will.

So bleiben nur wenige Freunde übrig. Aber auch der Transsexuelle Christel (Torsten Schwjck) und die Silvesternacht-Zufallsbekanntschaft Norman (Lennie Burmeister) haben mit Kallis verlässlich schlechter Laune und ihrer angriffslustigen Kratzbürstigkeit öfter ihre liebe Not. Und weil der schweigsame Norman, den eigentlich Christel für sich aufgegabelt hat, ausgerechnet der Junge ist, mit dem sie Glück spielen will, hat Kalli noch in diese kleine Konstellation einen Vertrauensbruch hineingetrieben.

Wie in „Kroko“ steht in Sylke Enders’ zweitem Langfilm eine junge Frau im Mittelpunkt, die es sich, ihrer Umgebung und den Zuschauern nicht leicht macht. Kann man sie mögen? Oder soll man sie bloß verstehen? Kalli jobbt als Altenpflegerin und träumt davon, irgendwann mal ein Medizinstudium aufzunehmen, ihre Träume mag sie aber niemandem preisgeben, nicht einmal im engsten Freundeskreis bei Wein, Kerzenlicht und angetrunkener Schummerstimmung.

Das Drehbuch zu „Hab mich lieb“ ist mitunter ähnlich ziellos. Oft mäandert es um kleinere und größere Alltagsereignisse des Trios, von dem sich keiner recht entschließen kann, seine Beziehung zu den anderen oder wenigstens zu den eigenen Wünschen zu klären. Ein Racheakt mit Chloroform und einem neuen Haarschnitt für zwei Bauarbeitertypen, die Christel gedemütigt haben, geht beinahe schief und zieht noch böse Konsequenzen nach sich. Die Alten im Pflegeheim benehmen sich so widerborstig, dass sie Kalli glatt die Schau stehlen – was sie ihnen prompt mit gleicher Münze heimzahlt. Und dann taucht auch noch ein Schriftsteller mit Vorliebe für Irland und Knotenkunst auf und verspricht Christel ein Leben an seiner Seite.

Offenbar ist Franziska Jünger nicht die Einzige, die im Film ganz anders rüberkommt als im Leben. Die meisten der Darsteller, die sich nach dem Schlussbeifall vorne aufgereiht haben, sind kaum wiederzuerkennen. Vermutlich ist der Unterschied aber nur deshalb so groß, weil die Dreharbeiten schon zwei Jahre zurückliegen.

Nur Rainer Zipke, der im Film ebenfalls Rainer heißt, wirkt in Fleisch und Blut genauso rundum schüchtern wie auf der Leinwand – als ob er sich am liebsten vor allen Blicken verstecken würde. Dabei ist er gerade erst für seine Nebendarstellerleistung vom Publikum total verdient mit einem Sonderapplaus bedacht worden. Und außerdem sind ja „gar keine Medienfuzzis hier“, vor denen man sich zu fürchten brauchte, wie Enders fröhlich verkündet. Womit sie allerdings nicht ganz Recht hat.

„Hab mich lieb“ ist ein Film, den man lieb haben kann, aber nicht muss, unter anderem, weil er seine Hinter-jeder-rauen-Schale-Moral schon im Titel so überdeutlich herausschreit. In der Inszenierung hat sich Sylke Enders für eine Art schnoddrigen Realismus entschieden: Die Kamera hält in flacher Fokussierung meist in Naheinstellung drauf und zeigt uns Menschen, die sich in ihrem Leben und manchmal auch in ihren Rollen nicht wirklich zurechtfinden und wie in Laubsägearbeit entstandene, hölzerne Dialoge dahersagen. Das hat manchmal diesen schönen paradoxen Doppeleffekt, dass man ganz nah an welchen dran ist, die eigentlich ganz weit weg sind von sich. Manchmal nervt es.

Publikumsfragen? Keine. Die Hälfte der Anwesenden gehört ohnehin zur Crew, es sind Freunde oder Bekannte, die den Film und seine Regisseurin bereits kennen. Wer will, kann sich natürlich ebenso gut draußen im Foyer miteinander austauschen, wo aufs Premierenpublikum schon der Rot- und Weißwein wartet, den die Frau vom Basisfilmverleih zu Beginn versprochen hat.