„Sechs tote Haupttäter“

106.496 Vor- und Ermittlungsverfahren führten deutsche Staatsanwaltschaften wegen NS-Verbrechen, 6.496 Angeklagte wurden verurteilt. Die meisten Verfahren hat die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen für die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ (ZSt) vorbereitet. Der ehemalige Ermittler Dietrich Kuhlbrodt, längst als Filmkritiker bekannt, spricht im taz-Interview und heute Abend im Anschluss an den Film „Todesengel. Auf den Spuren deutscher Kriegsverbrechen in Italien“, in Hamburg über seine Erfahrungen.

taz: Im ZSt liegen 1.657.756 Karteikarten mit Namen und Orten, die auf NS-Verbrechen hinweisen. Bremsen Arbeitsabläufe Verfahrenseröffnungen?

Dietrich Kuhlbrodt: Der doppelte Arbeitsaufwand kostet wichtige Zeit. Die ZSt ermittelt, und wenn eine Verurteilung möglich ist, übergibt sie die Akten der zuständigen Staatsanwaltschaft. Die muss sich aber einarbeiten. Eine kleine Staatsanwaltschaft mit wenigen Dezernenten wie damals in Lüneburg war dann mit 200 Aktenordnern von uns völlig überfordert. Diese blieben liegen. Eine Erleichterung war jedoch, dass wir später ohne Anzeige ermitteln durften. In den ersten Jahren mussten wir auf Anzeigen warten. Die ja kaum erfolgten.

Angeklagt wird nur, wenn Mord und niedere Beweggründe sicher nachweisbar sind?

Ja. Diese Einschränkung erfolgte 1966/67. Wir vermuteten, dass die Altnazis, die noch in Amt und Würden waren, diese Regelung durchsetzten. Nach diesem Gesetz waren sofort alle Taten von Mordgehilfen verjährt. Völlig unerwartet traf uns auch, wie der Bundesgerichtshof zwischen Haupttätern und Gehilfen unterschied. Aus Zynismus sagten wir: „Wir haben sechs verstorbene Haupttäter wie Hitler, Himmler oder Goebbels, alle anderen waren Gehilfen.“ Die Täter am Schreibtisch konnten so nicht belangt werden. Eichmann wäre demnach in Deutschland nie verurteilt worden.

Gab es viele Ermittlungen ohne Folgen?

Ja. Vor dem Hamburger Schwurgericht hatte ich ein Großverfahren gegen einen Senatssyndikus, der bei Euthanasiemorden beteiligt war. 2.000 Tote, 2.000 Krankenakten. Das Verfahren scheiterte, da der Beschuldigte „verteidigungsunfähig“ sei. Er war voll geschäftsfähig, beim Lesen der 1.000 Blatt starken Anklageschrift würde er sich aber zu sehr aufregen. Ein Gutachten bestätigte dies. Das Verfahren wurde eingestellt. Ein kleiner Trost: Die Akten halfen bei der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung.

40 Jahre später ist der öffentliche Druck ...

Der Zeitgeist hat sich natürlich verändert. Er beeinflusst auch die Justiz. Heute gilt das ZSt nicht mehr nur als „Nestbeschmutzer“, der Handlungsspielraum hat sich aber kaum verändert.

Seitdem in Italien Verfahren wegen NS-Kriegsverbrechen laufen, erklären die deutschen Behörden oft: „Wir warten auf die Entscheidungen.“

Zu den einzelnen Fällen kann ich nichts sagen. Aber ein Wort an meine Kollegen: Wer bei Mord nicht ermittelt, macht sich der Strafvereitelung schuldig, denn die Täter sterben darüber hin, und die Opfer erleben keine juristische Wiedergutmachung.

Interview: Andreas Speit

Film und Diskussion: Heute, 16. 1., 20.30 Uhr, Kino 3001, Schanzenstr. 75