berliner szenen Falscher Text

Antikapitalismus im Bus

Die Ansammlung von Genossinnen und Genossen vor dem S-Bahnhof Tiergarten ist an der schwarzen Kleidung zu erkennen: Strickmützen, Bomberjacken, Wollmäntel, hier und da ein roter Stern am Revers. Die etwa 45 Teilnehmer der „Stadtrundfahrt zu Orten des antikapitalistischen Widerstands“ sind in bester Stimmung. Szenetypisches wird in der kalten Winterluft diskutiert: X erschien neulich wieder nicht zum Plenum, und es sei unmöglich, wie Y in der Jungen Welt wieder dem sozialdemokratischen Nationalstaat das Wort geredet habe. Zwei junge Frauen streiten darüber, ob es vertretbar sei, als Vegetarierin in den Zoo zu gehen. Der Zug setzt sich in Bewegung. Durch den verschneiten Tiergarten geht es zu den Stellen, an denen Rosa und Karl den Tod fanden. Ein Paar stellt ein Grablicht auf dem verrosteten Rosa-Luxemburg-Schriftzug ab.

Drüben wartet der Reisebus. Bernd, einst Mitglied der legendären Antifa-M, führt mit Mikro geschichtssicher an Bendlerblock, Gründungshaus der KPD und Topografie des Terrors vorbei. Es ist warm im Bus, Schläfrigkeit macht sich breit. Am Gendarmenmarkt schrecke ich hoch: Hat der Genosse eben Lutter & Wegner gesagt? Am Schlossplatz dann: nichts Kämpferisches über Palastabriss oder Eliteschule. Dafür am Alex ein Verweis auf das „Sea Life“-Aquarium. Kopfschütteln im Bus. „Der hat sich wohl im Text geirrt“, meint ein älterer Herr und berichtet, dass Bernd sein Geld sonst beim Stadtmuseum verdient. Tatsächlich empfiehlt Bernd auch noch den Besuch der Berliner Bären, die Vegetarierinnen sind empört. Für ein paar Antifa-Gruppen von auswärts ist die Stadtrundfahrt trotzdem lehrreich: Sie kannten bisher nur Kreuzberg und die Sozialistengedenkstätte Friedrichsfelde. NINA APIN