Das Grinsen nach dem Blitz

Vietnamesische Schädelkunde: die Totenköpfe von Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt

HANOI taz ■ Es mag in der Sozialistischen Republik Vietnam zwar immer noch an so genannter echter Streetart mangeln. Doch bleiben deshalb die Straßen hier nicht ungestaltet. Dafür sorgen schon diverse staatliche Einrichtungen, die die vietnamesischen Städte mit Transparenten, Fahnen und bunten Propagandaplakaten verschönern. Das hat zwar seine Reize, kommt aber oft ein wenig altbacken daher.

Ganz anders die vietnamesischen Elektrizitätswerke, die mit ihren eigenwilligen Totenschädel-Arbeiten wirklich weit vorne an der internationalen Streetart-Front mitmischen könnten – vorausgesetzt, man wüsste in Hanoi oder Ho-Chi-Minh-Stadt, dass es so etwas gibt. Die Schädel, die eigentlich nur die Passanten vor den zahlreich vorhandenen Hochspannungsanlagen warnen sollen, werden nicht nur auf unterschiedliche Weise im Stadtbild appliziert – auf Emaille-, Blech- und Kunststoffschildern sowie per Schablone auf das Objekt gesprüht –, sie sind auch oft ganz individuell gestaltet.

Dabei hat sich das Design des typischen Hochspannungswarnungstotenschädels über die Jahre in eine ganz bestimmte Richtung entwickelt. Zwar können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, welcher der hier abgebildeten Schädel der älteste ist. Es ist aber so ungefähr aus dem Material und Verwitterungsgrad des Schildes sowie der Modernität des Designs zu erschließen.

Demnach ist Schädel 1 der älteste. Bemerkenswert an ihm ist, dass der Hochspannungsblitz noch beide Augenhöhlen durchfährt. Der Mund ist weit geöffnet, wie zu einem Lachen oder einem breiten Grinsen; es scheint fast so, als würde die vom Blitz getroffene Person ihre Hochspannungsexekution genießen.

Schädel 2 ist bereits etwas jüngeren Datums. Wie bei allen späteren Darstellungen, fehlen ihm die beiden gekreuzten Knochen und der Blitz geht nur noch durch ein Auge statt durch zwei. Der Mund dagegen zeigt zwei ordentlich geschlossene, fein ziselierte Zahnreihen. Dieser Schädel – der irgendwie an Fred Astaire erinnert – ist eher verblüfft als erfreut angesichts seines plötzlichen Abgangs über den elektrischen Jordan.

Was sich bei seinem Vorgänger schon andeutet, setzt sich mit Schädel 3 – einer Sprühschablonenarbeit – fort: Nur ein Augenblitz und der Mund bleibt zu. Neu sind allerdings die ausgeprägten Glubschaugen und der schwarze Helm nebst Kinngurt, die das Knochengesicht umrahmen: Aus Fred Astaire ist ein Motorradfahrer geworden, der – ganz Biker – das Strommalheur gelassen nimmt.

Eine Variation dieses Schädels ist Schädel Nummer 4. Der Helm sitzt etwas besser und wirkt längst nicht mehr so klobig; die Glubschaugen sind hinter einer coolen Sonnenbrille verschwunden, in dessen linkes Glas der Blitz unmittelbarer einschlägt als je zuvor. „Fuck, was soll’s“, scheint dieser Schädel noch schnell sagen zu wollen. Deshalb hat ihm der Elektrizitätswerkdesigner den Mund mit einem Reißverschluss vernäht.

So großartig alle diese Arbeiten auch sind, so verfehlen sie doch ihr eigentliches Ziel, nämlich vor der üblen Hochspannung abzuschrecken. Erst mit dem letzten und aktuellsten Schädel 5 wurde auch dieses Planziel erreicht. Hier ist dem Künstler endlich mal ein wahrer Alptraumschädel gelungen. Auch sein Mund ist zugenäht, jetzt aber mit groben, fiesen Stichen. Dazu gesellen sich die mit drei Strichen stilisierte Nase und die leeren, kafkaesken Augen. Dieses Häuflein Knochenelend hören wir nun wirklich röcheln: „Hey Leute, Freunde, Genossen, Mitvietnamesen. Es ist echt kein Spaß, wenn man am lebendigen Leib verbrutzelt.“ Hochspannungsabschreckung at it’s best!

Doch sicher wohnt diesen Streetart-Schöpfungen auch über ihren Gebrauchswert hinaus noch eine Metaebene inne. Allein aus der Metamorphose des Schädelmundes würden wohl Soziologen oder Menschenrechtler hemmungslos auf die Entwicklung der vietnamesischen Gesellschaft schließen. Und sind der Biker oder Fred Astaire nicht auch irgendwie Chiffren für irgendwas? Wir fragen uns dagegen nur: Wer klaut als Erster diese reizenden Motive? Und macht dann ein T-Shirt draus. CHRISTIAN Y. SCHMIDT