Sechzig Laien und eine Band

BÜHNE Das Theatertreffen feiert seinen 50. Geburtstag. Ein Katalog, ein Film und eine Bustour liefern interessante Anekdoten zu seiner Geschichte. So wird erlebbar, wie sich der Aufbruch im Theater der sechziger Jahre anfühlte

Interessant wird das immer dann, wenn der Rückblick wie ein Vorgriff scheint

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Matthias Lilienthal war 16 Jahre alt, als er beim Theatertreffen 1977 unbedingt den „Faust“ von Claus Peymann sehen wollte. Der war damals sagenumwoben, weil, so schreibt Lilienthal im dicken Katalog „Fünfzig Theater Treffen“, Peymann in „Stuttgart gerade rausgeflogen war, weil er für den Zahnersatz von Gudrun Ensslin gespendet hatte. Mir war es gelungen, mich durch den Bühneneingang reinzuschummeln, der damalige Leiter hatte mich rausgeschmissen und Peymann hatte mich wieder eingelassen.“ Das ist nicht nur deshalb eine schöne Anekdote, weil hier der eine Theatermacher gewissermaßen einen höflichen Knicks vor dem anderen macht, sondern auch, weil Peymann und Lilienthal inzwischen für antagonistische Begriffe von Theater stehen: Peymann für eine museal gewordene Schauspielkunst und geschlossene Werkinszenierungen, Lilienthal für Theaterkollektive, Projektarbeit, thematisch offene Entwicklungen.

Peymann gehört mit 17 Einladungen zum Theatertreffen, vor allem in den siebziger und achtziger Jahren, zu der Handvoll Regisseure, die mehr als zehnmal da waren (Noelte, Zadek, Stein, Marthaler sind die anderen). Das Kollektiv She She Pop war bisher einmal eingeladen, samt ihren Vätern und dem Stück „Testament“.

Im Katalog erzählt Mieke Matzke, dass sie von ihrer Einladung in Tokio erfuhren, von japanischen Festivalmachern, die ihnen die Twitternachricht unter die Nase hielten. „Dass sie das Theatertreffen überhaupt kannten und für so wichtig hielten, hat uns ebenso erstaunt, wie dass die Nachricht schneller um den Erdball war als wir selbst“, erinnert sich Matzke.

Der Katalog, ein Fest am letzten Wochenende, ein Film auf 3sat („50 Jahre Theatertreffen. Wir fahren nach Berlin“), der kommenden Samstag ausgestrahlt wird, und eine Bustour: Das sind die Elemente, der Geschichte des Festivals in seinem 50. Jahr beizukommen. Interessant wird das immer dann, wenn der Rückblick wie ein Vorgriff scheint. Und sich plötzlich erleben lässt, wie Aufbruch und Neuorientierung sich in den sechziger Jahren anfühlten.

Der Regisseur Hans Neuenfels erinnert sich an seine erste Einladung 1969, er war 28 Jahre jung, noch nie in Berlin gewesen, das Stück hieß „Zicke-Zacke“, handelte vom Fußballwahn und war neben den Schauspielern mit sechzig jungen Laien und einer Band besetzt. Das klingt doch schon nahe den partizipatorischen Projekten der Gegenwart. In Berlin ging der Abend vom Theater Heidelberg in „Gebrüll und Hohngelächter“ unter, und doch markierte er für den Regisseur den Anfang einer Bewegung der Befreiung: „Ich konnte in höchster Qualität spüren, was ich nicht wollte, nicht konnte, was ich anders sah, hörte, wertete. Ich hatte einen faszinierenden Vergleich, an dem ich mich messen, mich überprüfen konnte. Er begrenzte mich nicht durch Verengung, er konzentrierte mich.“

Ein anderer Vorgriff der ästhetischen Form lässt sich nur für dreißig Sekunden sehen, auf dem Bildschirm im Bus der Zeitreise durch die Geschichte des TT. Einer der Spielorte war 1967 die neu gebaute Akademie der Künste im Hansaviertel, Stolz der Nachkriegsmoderne. Die Städtischen Bühnen Oberhausen spielten hier „Selbstbezichtigung/Weissagung“ von Peter Handke.

Im kurzen Filmausschnitt überrascht nicht nur das Sprechen im Chor, das in Rhythmus und Phrasierung mehr an Neue Musik denn Bühnensprache erinnert, sondern auch die geometrische Choreografie: minimalistische Konzeptkunst, so sieht das von heute aus aus.

Die Bustour, die heute, Samstag und Sonntag noch mal losrollt, ist von „Zeitreisen Berlin“ organisiert und zunächst ein wenig enttäuschend. Man fährt ja nur vorbei an den Theatern, die einmal Spielstätte des TT waren, manche sieht man hinter den Bäumen kaum. Nur über wenige Stücke erfährt man etwas via Filmschnipsel oder damalige Kritiken.

Aber die Tour liefert stattdessen eine Skizze der Verwerfungen in der Theatergeschichte durch den Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands. Man fährt ja auch an der JVA Moabit vorbei, wo Ernst Busch 1943 nur knapp der Vollstreckung seiner Verurteilung zum Tode entging, und am Platz der ehemaligen Krolloper, die 1931 geschlossen wurde, weil Berlin sich keine drei Opernhäuser leisten sollte.

Da ist es kein Zufall, dass Heiner Müllers Blick auf Hitler in seiner Inszenierung des „Arturo Ui“ (1996) von Brecht, mit Martin Wuttke in der Hauptrolle, in einer Hinsicht die TT-Statistik anführt: Es ist die am häufigsten gespielte Inszenierung (über 400-mal) unter den zum TT ausgewählten.

Und die Zukunft? Wir rollen am Bundeskanzleramt vorbei, als die Information kommt, dass die Kulturstiftung des Bundes noch bis 2017 das Theatertreffen mitträgt.