Der real existierende Sozialismus

Seit vier Jahren regieren in Berlin die Sozialisten mit. Doch inwieweit haben sie die Politik des Senats wirklich beeinflusst? Drei Beispiele

Wissenschaftssenator Thomas Flierl widersetzt sich Studiengebühren – gegen seinen Willenvon FELIX LEE

So stellt man sich demokratischen Sozialismus in seiner Reinform vor: StudentInnen gehen sechs Wochen lang auf die Straße und protestieren gegen die Einführung von Studiengebühren. Wissenschaftssenator Thomas Flierl versucht zu beschwichtigen und schwadroniert zunächst von „sozial gerechten Studienkonten“ – nur wer zu lange studiert, müsse für weitere Veranstaltungen blechen. Die StudentInnen durchschauen sein Modell jedoch und entlarven es als „Langzeitgebühren durch die Hintertür“. Die PDS-Basis wiederum gibt den StudentInnen Recht und stimmt vier Monate später beim Parteitag gegen Flierl. Die Studiengebühren sind vom Tisch.

Der Unistreik vor gut zwei Jahren hat Flierl fast den Kopf gekostet. Er selbst war enttäuscht, dass die PDS sein Modell ablehnte. Schließlich waren in Flierls Haushalt die zehn Millionen Euro Einnahmen schon eingeplant. Doch er hielt sich an den Beschluss. Kompromisslos blieb der Wissenschaftssenator auch gegenüber dem großen Koalitionspartner. Obwohl die SPD mehrfach auf die Einführung von Studiengebühren gedrängt hatte, verteidigte Flierl die Parteilinie: Das Studium in Berlin bleibt gebührenfrei.

Dabei fällt es immer schwerer, an dieser urlinken Forderung festzuhalten. Insbesondere seitdem das Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr das von der Bundesregierung verordnete Gebührenverbot für unzulässig erklärte, können es vor allem unionsgeführte Länder kaum mehr erwarten, ihre StudentInnen zu schröpfen.

Das Problem für Flierl: Besonders die Länder, die am lautesten Gebühren einfordern, exportieren schon jetzt die meisten Studierenden nach Berlin. Aus Niedersachsen kommen rund 25.000, aus Baden-Württemberg rund 10.000 – insgesamt sind in der Stadt 41.000 Studierende anderer Bundesländer eingeschrieben. Wenn die Berliner Studis in München Gebühren entrichten müssten, während die Münchner in Berlin gratis studieren könnten, werde die Frage automatisch entschieden, hat Finanzsenator Thilo Sarrazin schon mehrfach gewarnt.

Er hat Flierl entsprechende Zahlen vorgelegt: Pro Absolvent zahle Berlin 51.700 Euro an die Unis und 28.290 Euro an die Fachhochschulen. Die noch teureren Medizinstudenten sind dabei noch gar nicht eingerechnet. Berlin drohe somit zum Ausbildungsfinanzier der Republik zu werden.

Flierl ist auf der Suche nach Auswegen. Unter anderem möchte er den StudentInnen aus jenen Ländern die Gebühren erlassen, die ebenfalls keine Gebühren erheben. Alle anderen Länder, die ihre Studierenden in die Hauptstadt schicken, sollen zahlen. Doch reicht das aus, die Finanzierungslücken im Wissenschaftsetat zu schließen?

Debatte kommt wieder

Bis zu den Abgeordnetenhauswahlen im September wird die Linkspartei das Thema nicht mehr anrühren. Reicht es nach dem 17. September wieder für Rot-Rot, ist jedoch schon jetzt klar, dass die Debatte bei den Koalitionsverhandlungen wieder aufgerollt wird.

Der größte Gegner von Studiengebühren innerhalb der Linkspartei war vor zwei Jahren der Abgeordnete Benjamin Hoff. Er hat seine Funktion als wissenschaftspolitischer Sprecher jedoch abgegeben. Sein Nachfolger ist Linkspartei-Fraktionschef Stefan Liebich. Als einer der wenigen in seiner Partei hatte er vor zwei Jahren für das Studienkonten-Modell gestimmt. Und Liebich gilt als protestresistent.

Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner setzt die Hartz-IV-Reform um – mit feinen Korrekturenvon RICHARD ROTHER

Wie viel Sozialismus wird eine sozialistische Partei durchsetzen, wenn sie die Rahmenbedingungen, die der kapitalistische Weltmarkt, supranationale und nationalstaatliche Regelungen setzen, nicht oder nur wenig beeinflussen kann und wenn sie zudem der kleinere Partner einer Landesregierung ist? Die Antwort ist einleuchtend: ziemlich wenig. Obwohl die PDS dies vorher wusste, beteiligt sie sich in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern an rot-roten Landesregierungen. In der Wählergunst scheint ihr das nicht zu schaden.

Im Bundestagswahlkampf hat die Linkspartei.PDS Hartz IV, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau, erbittert bekämpft – in Berlin setzt die Partei diese Reform um, allen voran Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner und Wirtschaftssenator Harald Wolf. Linke und rechte PDS-Kritiker finden das heuchlerisch. Dabei ist dieses Verhalten gängige realpolitische Praxis im föderalen System.

Hartz IV zeigt, wie eng der Spielraum ist, eine unsoziale Reform durch Detailregelungen zu entschärfen, und wie nah selbst Gutwillige daran sind, sich beim Regieren die Finger schmutzig zu machen. So ändert die so genannte Positivliste von Arbeitssenator Wolf, die Auswüchse bei den 1-Euro-Jobs verhindern soll, nichts an diesen fragwürdigen Jobs. Statt reguläre Stellen auf dem zweiten Arbeitsmarkt zu schaffen, werden tausende Betroffene mit Beschäftigungen abgespeist, die die rot-grün-gelb-schwarze Hartz-Koalition bewusst entwürdigend bezeichnete: Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (MAE).

Nächstes Beispiel: der Wohnraum für Hartz-IV-Empfänger. Weil sich die Kommunen an den Wohnkosten der Betroffenen beteiligen, hat die rot-rote Koalition geregelt, welche Wohnung angemessen ist. Entscheidend ist dabei nicht die Größe der Wohnung, sondern der Preis. Dieser ist, auch auf Betreiben von Sozialsenatorin Knake-Werner, durchaus im durchschnittlichen Bereich festgesetzt worden. So darf ein Einpersonenhaushalt eine Bruttowarmmiete von bis zu 360 Euro kosten, bei einem Zweipersonenhaushalt dürfen es 600 Euro sein. Dennoch fürchten Mieterverbände massenhafte Zwangsumzüge.

Milde durch Sonderregeln

Knake-Werner, die in der Gesundheitspolitik die Sanierung des Krankenhauskonzerns Vivantes mit Lohnverzicht und Auslagerungen mitträgt, glaubt dies nicht. Sie verspricht sich von Sonderregelungen Milderung: So können die Richtwerte überschritten werden, um Schwangere oder Senioren nicht aus ihrem sozialen Umfeld zu vertreiben. Auch sollen Alleinerziehende mit mindestens zwei Kindern oder Behinderte besonders geschützt werden. Zudem gibt es für alle eine Schonfrist – der Zwangsumzug steht frühestens nach einem Jahr Arbeitslosengeld-II-Bezug an.

Wer aus seiner Wohnung geworfen werden soll, muss sich allerdings selbst um angemessenen Ersatz kümmern – und sich mit den überforderten Hartz-IV-Behörden wegen der Übernahme der Umzugskosten streiten. Eine Umzugsfirma wird nur in Ausnahmefällen bezahlt, die Betroffenen sollen sich selbst helfen. In der Regel sollen nur Umzugskartons, ein Mietfahrzeug und eine Beköstigungspauschale für unterstützende Verwandte oder Bekannte beglichen werden. Staatlich erzwungene „Eine Hand wäscht die andere“-Strategie könnte man dies nennen – in Ostberlin ist das nicht unbekannt.

Wirtschaftssenator Harald Wolf setzt auf Pragmatismus – gerade wenn’s ums Geld gehtvon RICHARD ROTHER

Wirtschafts- und Arbeitssenator Harald Wolf ist sicher einer der führenden Köpfe der rot-roten Koalition. Schon zu seiner Zeit als Haushaltsexperte und Fraktionschef der PDS profilierte er sich als pragmatisch denkender Landespolitiker. Deshalb ist es angebracht, die Frage, wie viel Sozialmus im SPD/PDS-Senat steckt, nicht nur auf Wolfs Politikfelder zu begrenzen.

Wichtigstes Ziel des rot-roten Senats war die Sanierung des maroden Landeshaushaltes. Den dafür notwendigen Sparkurs, aber auch das Einklagen von zusätzlichen Bundeshilfen, trägt die Linkspartei.PDS mit, auch und gerade Harald Wolf. Wichtigste Sparmaßnahmen waren die Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und bei öffentlichen Unternehmen. Mit Sozialismus, wovon sich die Parteibasis die Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen erwartet, hat das wenig zu tun. Zudem war die konkrete Lohnkürzung nur durch den Bruch eines tarifpolitischen Tabus möglich: Das Land Berlin ist aus den öffentlichen Arbeitgeberverbänden ausgetreten. Der Vorwurf der Gewerkschaften, damit Tarifflucht und Tarifaushöhlung zu fördern, folgte prompt. Die Lohnkürzungen nach dem Motto „Weniger Geld für weniger Arbeit“ konnten sie aber nicht verhindern – dazu war die Haushaltslage zu prekär.

Die größten Privatisierungen – Gasag, Bewag, Wasserbetriebe – führte die große Koalition lange vor Wolfs Amtszeit durch. Jetzt schlägt sich der Wirtschaftssenator mit den Folgen herum. So will er etwa die jüngst angekündigte Gaspreiserhöhung kartellrechtlich prüfen lassen. Aber auch der rot-rote Senat schreckte nicht vor dem (vermutlich unwiederbringlichen) Verkauf öffentlichen Eigentums zurück, zum Beispiel bei Wohnungsgesellschaften. Globalisierungskritiker wie Attac geißeln dies schon im Ansatz. Ihr Argument: Mit seinem Eigentum verliere der Staat Einfluss; statt aufs Gemeinwohl werde auf das Kapitalinteresse nach Profit geachtet.

Schwierig war auch der Umgang mit der Bankenaffäre. Zwar wurde die erste Milliardenspritze zur Rettung der mehrheitlich landeseigenen Bankgesellschaft vom rot-grünen Übergangssenat auf den Weg gebracht. Aber der rot-rote hielt daran fest. Und er setzte mit der Risiko-Abschirmung noch eine Milliardenbürgschaft drauf. Für Harald Wolf war der Umgang mit der Bankaffäre stets die Suche nach dem kleineren Übel. Eine Pleite der Bank wäre noch viel teurer geworden, so sein Argument.

Vielverdiener zahlen viel

Wirklich bewegt hat die PDS etwas bei der umstrittenen Anhebung der Kita-Gebühren, deren Abschaffung mittlerweile sogar CDU- und SPD-Bundespolitiker fordern. Die PDS setzte durch, dass die Kita-Gebühren stark nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt sind. Wer viel verdient, zahlt viel – und umgekehrt. Viele Geringverdiener zahlen nun nicht mehr als zuvor. Die Ansprüche auf Kinderbetreuung sollen indes schärfer überprüft werden. Ein Schritt in die richtige Richtung ist dagegen die Einführung des kostenfreien letzten Kita-Jahres ab 2007.

Zumindest weltanschaulich ist die Linkspartei.PDS in der rot-roten Koalition vorangekommen. Der verpflichtende Werteunterricht nach dem Vorbild des brandenburgischen LER (Lebenskunde, Ethik, Religion) wird zum nächsten Schuljahr eingeführt. Nur über den Namen sind sich beide Partner noch nicht einig. Während Schulsenator Klaus Böger (SPD) „Ethik“ favorisiert, will die Linkspartei.PDS den Namen „Ethik und Kulturen“.