Gifttod aus dem Brunnen

AUS HUANGMENGYING GEORG BLUME

Aufmachen! Besuch! Bollernd klopft der Nachbar an die Hoftür und kündigt uns an. Es vergeht eine Weile, dann öffnet eine junge Bäuerin mühsam die rot gestrichene Tür. Kong Heqin ist schwer krank. Sie schleppt sich zurück über den im Winter unbewirtschafteten Innenhof und lässt sich in ihrer Hütte auf dem Bett nieder. Die Wände sind kahl. Kong berührt mit der Hand ihren Unterleib. „Ich kann den neuen Tumor an der Bauchwand fühlen: Er tut weh“, sagt sie. Ihr Körper ist vom Krebs durchlöchert. Fünfmal wurde sie schon operiert, fünfmal wurde ein Tumor entfernt. Sie ist jetzt 31 Jahre alt.

Was denkt Kong, was ein Ausländer wollen könnte, der sich hier in Huangmengying neben ihr Bett setzt und Fragen stellt? Es kommt keine Geste, kein Lächeln, kein Klagen. Die kranke Bäuerin ahnt nicht, dass die Ursache für ihr Leiden wohl eine der größten Umweltkatastrophen Chinas ist. „Früher habe ich über meine Krankheit geredet, heute nicht mehr“, sagt Kong, Mutter von zwei Kindern. Sie weiß, dass für sie jede Hilfe zu spät käme. Sie trägt die blau-weiß-rot gemusterte Baumwolljacke über einem dicken Wollpullover. Sie kann die Hütte nicht mehr verlassen, für eine Chemotherapie hat sie kein Geld. Ihr Arzt sagt, es sei ein Wunder, dass sie noch lebt. Eingemummt wartet sie in diesem ungeheizten Raum auf ihren Tod.

Kong aber ist mit ihrer Krankheit nicht allein. „In kurzer Zeit sind viele hier an Krebs erkrankt und gestorben“, sagt sie. Jahrelang wussten Kong und ihre Nachbarn nichts von der Ursache ihrer Krebsleiden. Sie erinnert sich, dass sie schon vor dreizehn Jahren, als sie zu ihrem Mann in dieses Dorf zog, chronischen Durchfall hatte. Sie wusste, dass etwas mit dem stinkenden, trüben Wasser aus dem Hofbrunnen nicht stimmte. Doch nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass dieses Wasser sie töten würde.

An dem zementierten Brunnen im Innenhof ihres kleinen Anwesens ist eine verrostete Pumpe befestigt. Daneben stehen das Waschbrett, der Eimer mit Waschpulver. Auf der Leine hängen ein hellblauer Pullover, zwei rosa Slips. „Meine Schwiegermutter hat gerade die Wäsche gewaschen“, erklärt Kong. Sie selbst hat nicht mehr die Kraft, die Pumpe zu bedienen. Ja, sagt sie, das Wasser sei giftig. Aber ihre Familie brauche trotzdem welches: zum Wäschewaschen, Duschen, für den Garten. Nur zum Trinken und Kochen von Lebensmitteln leisten sie sich jetzt gekauftes Wasser.

Die Fabrik, sagt Kong, liege 20 Kilometer entfernt flussaufwärts. Die würde das Wasser vergiften, da sei man im Dorf machtlos. Protest? Nie darüber nachgedacht. „Ich habe noch nicht gehört, dass jemand im Dorf wütend geworden ist.“ Hilfe erwarte sie nicht. „Ich habe kein Geld und keine Beziehungen“, sagt Kong. Ihre schweigende Duldsamkeit ist grenzenlos. Die hat dazu beigetragen, dass ihr Leiden lange unerkannt blieb und dass das Ausmaß der Krebserkrankungen im Ort über Jahre unbemerkt blieb. Heute ist das „Krebsdorf“ Huangmengying Synonym für Chinas größten Umweltskandal.

Der Name von Kongs Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan könnte bald so bekannt sein wie das japanische Minamata, das italienische Seveso oder das indische Bhopal, die als Orte ökologischer Katastrophen das Bewusstsein der Menschheit verändert haben. Nirgends ist die Verantwortung für den Tod vieler Menschen durch Umweltverschmutzung in China so klar wie in Huangmengying.

Letzte Woche in Peking. Kevin May beugt sich im Büro der Umweltorganisation Greenpeace über ein 400 Gramm schweres Glutamat-Päckchen des chinesischen Lebensmittelkonzerns Lianhua. May, ein aus Hongkong stammender smarter Chinese, ist Kampagnenleiter seiner Organisation für den Bereich Giftstoffe. Der Name Lianhua ist ihm vertraut, der Konzern ist in China so bekannt wie Maggi oder Knorr in Deutschland. Früher hielt die Firma das Staatsmonopol auf Glutamat, heute ist sie an der Börse in Schanghai notiert, befindet sich aber immer noch mehrheitlich in Staatsbesitz.

Glutamat ist ein in China beim Kochen gebräuchlicher Geschmacksverstärker. Das Päckchen auf Mays Tisch stammt aus der Fabrik 20 Kilometer flussaufwärts von Huangmengying. Die größte Glutamatfabrik der Welt produziert jährlich 133.000 Tonnen des weißen Pulvers. Deshalb stößt sie täglich 124.000 Tonnen ungefiltertes Wasser in den Shaying-Fluss aus, sagt selbst das Pekinger Umweltministerium. Lianhuas Produktion „stellt eine schwere Bedrohung für das Leben der Menschen flussabwärts dar“, bemerkt der offizielle Bericht. „Die Menschen flussabwärts“ – das sind die Bauern von Huangmengying.

May hat ein Dutzend Mitarbeiter versammelt, junge Chinesen in Jeans und Pullover. Sie beschäftigen sich zum ersten Mal mit dem Fall, sind sichtlich bewegt, überlegen, ob sie eine Kampagne gegen Lianhua starten sollen. „So etwas hat Greenpeace in China bisher noch nicht gewagt“, sagt May. Er ist der Erfahrenste der Gruppe und reagiert vorsichtig. Die Provinz Henan gilt in China als Tummelplatz für korrupte Kader. May kennt die Unbelehrbarkeit dieses Gegners.

In Huangmengying herrscht Verzweiflung. „Wir wissen von der Wasservergiftung erst, seit vor zwei Jahren eine Zeitung darüber berichtet hat“, ruft ein aufgebrachter Bauer im Wartezimmer des Dorfarztes. „Nur unser Bürgermeister, unser Arzt und die Journalisten helfen uns“, sagt eine empörte Frau. Eigentlich wollte der Reporter nur ein paar Fragen an den Arzt richten. Doch im Nu ist die kleine Klinik voll von Menschen, die ihre Klagen vorbringen. Ein alter Bauer in blauer Mao-Jacke spricht von seiner an Krebs gestorbenen Frau, eine junge Mutter in orangefarbenem Goretex-Anorak von ihren schwer erkrankten Kindern. Alle hier beherrscht die Angst vor dem Gift. Zu Recht: Von den einst 2.400 Dorfbewohnern sind schon 120 an Krebs gestorben, 5 Prozent der Bewohner. Und viele sind schon am Krebs erkrankt.

Dorfarzt Wang Fadao sitzt hinter seinem Schreibtisch, vor sich einen Rezeptblock, Kugelschreiber und zwei Spritzen. Der ehemalige Barfußarzt der Mao-Zeit trägt eine grüne Uniformjacke mit Goldknöpfen. Wang spricht ruhig, mit der Autorität eines alten Maoisten: „Die Regierung ist verantwortlich. Sie schützt nur die Reichen und macht die einfachen Bauern machtlos“, diktiert Wang dem Reporter.

Offen beschreibt er die Lage: Er behandle derzeit 50 Krebspatienten, von denen er nicht wisse, ob ihnen seine Pflege helfe. Viele verzichteten auf die ärztliche Hilfe. Es könne ja ohnehin nur um psychische Entlastung gehen – Chemotherapien und Operationen seien für fast alle im Dorf zu teuer. Nicht einmal Kinder würden ausreichend medizinisch versorgt. Inzwischen habe jede Familie im Dorf mindestens einen Krebskranken, doch die Ursache des Problems bleibe bestehen: „Die Fabrik produziert einfach weiter. Nur wenn Inspektoren der Regierung kommen, wird der Giftausstoß reduziert. Es wird viel geredet“, sagt Wang, „aber nichts getan.“

Auch Wang Lincheng, Bürgermeister und Parteisekretär in Personalunion, wäre gerne bereit, die Notlage im Dorf zu erklären. Sein zweistöckiges Haus liegt an der Landstraße zur Kreisstadt Shenqiu. Die Behörden aber haben Wang untersagt, mit Journalisten zu reden. Er bittet um Verständnis, lädt uns aber in sein Haus. In seiner Vene steckt eine Nadel, daran ein Schlauch, an dessen Ende ein Beutel mit Flüssigkeit. Ist auch er, von robuster Gestalt und in mittleren Jahren, an Krebs erkrankt?

Die meisten Dorfbewohner leiden an Speiseröhrenkrebs. Im fortgeschrittenen Stadium macht er die Nahrungsaufnahme unmöglich. Dieser, aber auch Magen- und Darmkrebs, die im Dorf vorkommen, können durch Ammoniak, Nitrate und Nitrite verursacht werden, die bei der Glutamatherstellung ohne Filterung in großen Mengen frei werden. Noch fehlt es an einer epidemischen Studie, die die Ursache der Krebsfälle in Huangmengying nachweist. Klar ist nur, dass das Grundwasser im Dorf vergiftet ist. „Hier müssten wir zuerst Klarheit schaffen“, sagt Greenpeace-Mann May in Peking. Wobei ihm sofort vor den praktischen Schwierigkeiten graut. Denn natürlich würde Greenpeace keine Erlaubnis für Untersuchungen vor Ort bekommen – man müsste auf eigene Faust handeln.

Peking aber scheint entschlossen, den Fall Huangmengying auszusitzen. Dabei betrifft er nicht nur das Krebsdorf – die ganze Flussebene des Huaihe, in den der Sanying mündet und an dessen Ufern 150 Millionen Menschen leben, gilt wegen der Wasserverschmutzung als ökologisches Katastrophengebiet. Auf über 100 Milliarden Dollar werden die Kosten für eine nachhaltige Renaturierung des Huaihe und seiner Zuflüsse geschätzt. Das ist sogar für Peking eine Menge Geld. Aber die Regierung kann kaum behaupten, von den Problemen nichts gewusst zu haben. Schon in den 90er-Jahren investierte die Zentralregierung Milliarden in die Reinigung des Huaihe – ohne Erfolg. Hinzu kommt die Ignoranz gegenüber den Berichten der eigenen Umweltbehörde.

Aber etwas hat Peking doch unternommen: Im Dezember 2004 tauschte man den Provinzchef aus. Für Li Keqiang, einen Intimus von Parteichef Hu Jintao, der von dem Skandal verschont werden sollte, kam der Propagandaminister für Radio und Fernsehen, Xu Guangchun, nach Henan. Der hat keine Erfahrung mit Umweltthemen, stattdessen ist er ein Meister der Zensur.

Wird es Greenpeace dennoch wagen, den Fall aufzurollen? Hilfe für Huangmengying kann heute nur noch von außerhalb der Provinz kommen. „Die Fabrik muss endlich die Verantwortung übernehmen“, sagt Dorfarzt Wang. „Aber die Bauern allein können nichts erreichen.“