Die Löcher in Walentinas Sommerkleid

GESCHICHTE Die Gulag-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum beeindruckt durch ihre Nüchternheit. Umso beklemmender wirken die Dokumente des stalinistischen Terrors in den „Besserungsarbeitslagern“

Ein Plakat zeigt Stalin, der Oppositionelle buchstäblich in der Pfeife raucht

VON JÖRG SUNDERMEIER

Wir alle kennen den Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij, auf Deutsch: Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager, kurz: Gulag. Der Gulag ist uns als Lager längst bekannt, als „Archipel Gulag“, er muss ständig herhalten für Vergleiche mit den Vernichtungslagern der Nazis, er hilft Antikommunisten bei der Begründung ihrer Kommunistenfresserei. Aber kennen wir den Gulag wirklich?

Wenn man die gerade eröffnete Ausstellung „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums besucht, merkt man, dass man viel weniger wusste, als man dachte. Das liegt vor allem daran, dass die Ausstellung sehr nüchtern gehalten ist.

Dabei beginnt sie eigentlich schön, mit einem Modell des „Monuments der Dritten Internationale 0 10“ von Wladimir Tatlin, dem sogenannten Tatlin-Turm. Dieses nicht realisierte Gebäude, dass nichtsdestotrotz als Meilenstein der Architekturgeschichte gilt, wurde 1920 präsentiert und steht für eine wunderbare Zukunft, in der die Errungenschaften der Moderne mit der gesamten Bevölkerung geteilt werden. Hier hat die Ausstellung die Utopie der frühen Sowjetunion geradezu greifbar gemacht. Zudem beschwören Plakate aus den dreißiger Jahren den wirtschaftlichen Aufschwung, etwa wenn ein rotbäckiges Männchen Würstchen für alle verspricht. Allerdings sieht man auf einem Plakat auch Stalin, der Oppositionelle buchstäblich in der Pfeife raucht.

Dem Modell des Tatlin-Turms gegenüber ist dann eine Installation ganz anderer Art aufgestellt: Sie besteht aus Überresten von Bettgestellen, von Schubkarren, Spitzhacken und Brettern, auf die geschrieben wurde, da sie der Kälte Sibiriens besser standhielten als Papier. Diese Gegenstände hat die Gruppe Memorial, die die Ausstellung mit ausrichtet und die sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion um das Andenken an die Verbannten und die Gulag-Häftlinge kümmert, an den Standorten der ehemaligen Lager eingesammelt. Denn erst in der späten Sowjetunion, 1988, 32 Jahre nach Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU, bei der erstmals öffentlich über die Verbrechen Stalins gesprochen wurde, wurden die Opfer des stalinistischen Terrors namentlich benannt und mit einer kleinen Ausstellung öffentlich gemacht.

Die Lager waren zu diesem Zeitpunkt längst verfallen oder abgerissen, nichts sollte mehr auf den stalinistischen Terror hinweisen. Dabei hatte der Terror große Menschenmassen betroffen, 1929 waren bereits circa 50.000 Menschen im Gulag eingesperrt, zehn Jahre später waren es schon doppelt so viele. Insgesamt durchlitten mehrere Millionen Menschen die Folter im „Besserungsarbeitslager“, viele starben an Krankheiten, Unterernährung und Entkräftung.

Der Gulag war aber nicht nur ein Lager für wirkliche oder mutmaßliche Oppositionelle, er war zugleich ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Die Häftlinge im Gulag arbeiteten unter größten Qualen am sowjetischen Wirtschaftswunder. Nach Chruschtschows Absetzung im Jahr 1964 wurde der Gulag wieder tabuisiert, das Schreiben über ihn mit zum Teil langjährigen Haftstrafen geahndet. Erst in den vergangen Jahren bekamen die Überlebenden die Chance, an ihr Schicksal und an das der unzähligen toten Mithäftlinge zu erinnern.

Die in der Ausstellung zumeist in Schränken, die an Spinde gemahnen, präsentierten Gegenstände sind also in gewisser Weise die letzten ihrer Art. Umso beeindruckender sind sie. Etwa die Lampe, die über einer Lagerbaracke hing – jemand hat sie liebevoll aus Konservenbüchsen gefertigt. Oder der kleine Brotbeutel, den sich ein Häftling Anfang der 50er Jahre aus Sackresten genäht hatte und den er brauchte, damit die Mithäftlinge ihm nicht seine eh schon karge Essensration stehlen konnten.

Geradezu anrührend und zugleich enorm sprechend ist das Sommerkleid von Walentina Buchanewitsch-Antonowa. Sie wurde 1938 in diesem Kleid verhaftet und blieb ein Jahr ohne Anklage in Haft, das Kleid trug sie die ganze Zeit. Es ist zerrissen, von oben bis unten überall notdürftig geflickt. Die Löcher im Kleid erzählen von den Mühen und vom Elend seiner Trägerin.

Selbstredend sind auch eine der typischen Wattejacken ausgestellt und kaputte Schuhe. Zeitzeugenberichte erzählen dazu etwas über die Erfrierungen, die man sich in diesen Schuhen holen musste, weil sich in ihnen Wasser sammelte, das dann gleich wieder gefror.

Die Ausstellung ist lobenswert, weil sie so nüchtern gehalten ist. Sie verlässt sich allein auf die Drastik der Zeitzeugenberichte und der ausgestellten Gegenstände und Dokumente und versucht nicht, das Elend nachzustellen. Man muss sich in dieser Ausstellung das Elend der Häftlinge selbst erschließen: die Erfahrung teilen kann man nicht. Schlimm genug schon, dass man es sich vorstellen kann.

■ „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“: Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, täglich 10–18 Uhr, bis 1. September