EIN GROSSER SCHWARZER SCHATTEN DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT LEGT SICH WIE EIN MANTEL AUS BLEI SCHWER ÜBER ZWEI KLEINE SEELEN
: Diese Leute müssen weg

LIEBLING DER MASSEN

Es schneit. Auf der anderen Seite der Fußgängerampel an der Bauhausausfahrt steht ein Paar, die junge Mutter mit einem Doppelkinderwagen, gefüllt mit zwei kleinen Kindern. Brav warten sie auf Grün. Wir warten nicht. Vor mir schliddert eine verlebte Gestalt im Männerrock über die Furt und schwenkt eine Bierflasche in der Hand. Dahinter folge ich, ebenfalls bei Rot. Die Frau wirft uns kurze, klassifizierende Blicke zu und sagt in erstaunlich sachlichem Tonfall zu dem Mann: „Diese Menschen müssen weg!“ „Diese Menschen“, das sind wir. „Weg“, das ist woanders. So weit, so gut – das ist eben ihre Meinung. Doch wohin genau müssen diese Menschen? Da die Frage in gewisser Weise auch mich betrifft, lohnt sich das Nachdenken. Die Gestalt vor mir muss sicher ganz weit weg, wenn ich den Blick der Frau richtig gedeutet habe. Und ich muss zumindest ziemlich weit weg. Das finde ich auch, da gehe ich mit ihr komplett d’accord. Ich fühle mich schon lange urlaubsreif. Oder meint sie das nicht?

Obendrein stellt sich natürlich die Frage nach dem „Warum“. Da spekuliere ich mal ganz mutig. Sie ist eine gute und verantwortungsvolle Mutter. Sicher auch warmherzig und empathisch, aber was zu weit geht, geht zu weit: Wir sind bei Rot über die Ampel gegangen und ihre Säuglingskinder haben es gesehen. Nun, nicht direkt gesehen, weil sie noch zu klein zum Gucken sind, doch sie spüren bereits intuitiv, dass irgendwas nicht stimmt. Es ist nur ein großer schwarzer Schatten der Verantwortungslosigkeit, der sich wie ein Mantel aus Blei schwer über zwei kleine Seelen legt, die noch lange nicht in Worte fassen können, was ihnen hier widerfährt.

Doch was heißt „nur“ ein Schatten? Die gesamte für die spätere Entwicklung so eminent wichtige Früherziehung wird mit einem Schlag aufs Grausamste torpediert und sinkt auf den eiskalten Grund eines Meeres aus Rücksichtslosigkeit und Unverstand. Dort keimt dann die böse Saat. Wenn sie nicht vorher überfahren werden, werden diese Kinder kriminell und töten. Im Gefängnis zeigt ihnen der Psychologe Bilder von Fußgängerüberwegen mit roten Ampeln: „Da gehen wir doch, zack, einfach drüber!“, lachen sie heiser. Sie sind blind in die Falle getappt, denn natürlich geht es vor allem um die Symbolik im Umgang mit Regeln jeglicher Art. Der Sachverständige runzelt bekümmert die Stirn. Das Ergebnis steht fest: lebenslängliche Sicherungsverwahrung.

Nein, wenn ich mir das hier so recht überlege, sollen wir wohl nicht weg in den Urlaub, denn bei aller Warmherzigkeit ist die Mutter doch entschieden – Kindswohl geht allemal vor Freilandhaltung asozialer Gestalten. Wenn jemand ihren Kleinen schadet, muss er ins Lager, so leid es ihr nicht tut: Diese Menschen müssen weg!

Hinter hohen Stacheldrahtzäunen kleben wir Tüten und lernen, darin unsere Bierflaschen zu verstecken. In den langen Gängen zwischen den Baracken steht an jeder Ecke eine Ampel, die die meiste Zeit über Rot zeigt. Verstöße werden mit Schlägen geahndet, wir haben lange Jahre Zeit zum Üben. Not schmiedet zusammen. Die Gestalt und ich freunden uns an. Aus einer alten Bettdecke schneidert er mir auch so einen Männerrock. Dafür kaue ich dem Zahnlosen die harten Brotrinden weich.

Bald sind wir schier unzertrennlich. Die anderen Langstrafler, die mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren sind, in Anwesenheit von Kindern laut „Scheiße“ gesagt haben oder aus verschiedenen anderen Gründen wegmussten, nennen uns „die zwei von der Bauhausausfahrt“.