Endlich! DM wieder da!

Alles sehr tanzbar und traurig: Depeche Mode ist wieder auf Tour. Auf den Schwingen ihrer Klagehymnen können der Bub aus St. Pauli und der arrivierte Geschäftsmann aus Blankenese gleichermaßen tief in sich hinab tauchen, peinigende Dämonen entdecken und meinen, eine verirrte Seele zu sein

von Jens Fischer

2006 – im nie vergangenen Jahrzehnt der Achtziger ist Lockerheit eingekehrt. Vergeben sind Lidstrich, Rüschen, gefönte Scheitel und gelig brikettierte Haare. Vergessen ist der dunkel eingefärbte Snobismus. Fan-T- Shirts gibt es nicht mehr nur in Schwarz. Auch die Bühne blinkt heutzutage knallrot bei Depeche Mode, kurz: DM.

La-Ola-Wellen schwappen durchs Rund der Color Line Arena. Nach einer halben Stunde Konzert stehen auch die letzten Sitzplatzkartenbesitzer. Sie lassen ihre Arme in gedehnten Schwingungen tanzen. Gekreische, Gestrahle, Mitgesinge. Von einem Robbie Williams-Konzert ist das kaum zu unterscheiden.

Man muss schon genau hinschauen, um die Andächtigkeit des generationenübergreifenden Publikums zu bemerken. Weltentrückt fröhlich und würdevoll betrübt lauscht der Geschäftsmann aus Blankenese wie die St. Paulianer Jugend der global funktionierenden Konsensband. Man taucht auf den Schwingen der DM-Klagehymnen tief in sich hinab, entdeckt peinigende Dämonen und meint, eine verirrte Seele zu sein. „Damaged people“ heißt der DM-Song zur Gefühlslage der Fans. Außenseitertum als Wohlstandslangeweile, könnte man übersetzen. Oder: Überdruss als ewig pubertärer Schmerz. DM-Musik funktioniert dann als Nostalgie, mit der man sich gegen das Leben polstert.

DM entstammt einer übersichtlichen Welt. Punks und Rocker waren in den Achtzigern hässlich und doof, glaubten an die Ehrlichkeit der Gitarrentigerei, während sich Popper dem alten Streben nach dem guten Stil verschrieben hatten. In diesem Sinne huldigte DM dem ästhetischen Empfinden, der Fähigkeit zur Erkenntnis des Schönen und Angemessenen.

Wobei das Kunststück gelang, das feine Stilbewusstsein mit wilder Jugendlichkeit aufzuladen, aber auch die in Schmerzen schwelgende Ratlosigkeit, was das Leben denn so soll, in Schokolade zu tunken – und dabei in etwas köstlich Erhabenes zu verwandeln: euphorisierende Musik, die tiefschwarz glüht. DM ist ja eigentlich die Abkürzung für Deutsche Melancholie. So wundert es auch nicht, dass es in den Songs von Engeln und Teufeln, Propheten, Märtyrern und anderem biblischen Getier nur so wimmelt.

Als romantisches Grundmotiv wird Erlösung durch Liebe in allen Sprachklischees durchbuchstabiert. Als englische Band addiert DM reichlich Ketten, Fesseln, Lack, Leder sowie entsprechenden Sex.

Die Konzertmesse wird von Priestern im Rockstargewand gefeiert: drei Familienväter im Ü-40-Party-Alter. Sie haben Drogenexzesse, Welterfolge, Nervenzusammenbrüche, Beziehungskrisen, Größenwahn, gekränkte Eitelkeiten überlebt und für die aktuelle Tour eine Setlist zusammengestellt, die zeigt, wie DM durch permanente musikalische Umwälzung zur zeitlosen Band wurde. Basis ist die unbeschwerte Simplizität des Synthiepop. Darüber schiebt sich das so verbissene wie pathetische Industrial-Gehämmere.

Sehr deutlich auch der Verrat an der synthetischen Pracht des Pop durch die Einbeziehung von Stadionrock, Blues, Gospel. Dazu Ambient-Schmuser, TripHop-Versuche, Gruftie-Techno. Von der deutschen Düster-Avantgarde und dem Techno-Aufbruch hat DM bestens profitiert – und sich entwickelt zu einem multinational operierenden Musikkonzern zur Ikonenproduktion für die einsame Masse Mensch. Nicht die gewichtig schleifenden Melodien, sondern die ästhetisierte Stimmung ist dabei entscheidend. DM will das von Technologie und Technokratie vergewaltigte Leben durch Akustik-Design wieder harmonisieren, die verwirrende Rasanz der Trends konsumierbar machen. Künstlichkeit, die sich nach Tiefenpsychologie anhören soll.

In dieser Klangkultkirche spielen die drei verbliebenen Mitglieder zuverlässig ihre Rollen. Martin Gore komponiert alle paar Jahre einige Songs, lässt sie edel produzieren und von Anton Corbijn auf einer edel designten Bühne inszenieren: futuristisch silbriger Retro-Schick prunkt anno 2006 vor einer sechsteiligen Videowand für variantenreich ineinander verschachtelte Projektionen. Andy Fletchers Aufgabe ist es, das alles abzunicken und mit zwei Kollegen an Ufo-Cockpit-Arbeitsplätzen die Sound-Samples abzurufen. Ein gemieteter Trommler gibt sein Bestes.

Und Dave Gahan spielt den Zeremonienmeister als Rock’n’Roll-Magier: mit baritonaler Inbrunst, changierend zwischen kernigem Kitsch und schneidiger Kühle, etabliert er die Erotikkomponente. Auch durch seinen fix entblößten Oberkörper, eine apart gestählte Galerie naiver Tattookunst. Armerudernd rast, hüpft, stelzt, piourettiert Gahan ums Mikrofon. Kopf zwischen die Schultern ziehen, ausharren, ausharren, und den Körper wieder in die Senkrechte schnellen lassen.

Zum Finale dann Kumpel an Kumpel, Gahan an Gore gelehnt, der mit schwarzem Minirock und Hahnenkammmütze für Ironie zuständig ist. Und für die Empfindsamkeit – beim Absingen von Balladen. Insgesamt ein Konzert mit kraftvoll transparentem Live-Sound, an dem die Fanmassen ihre dunkle Freude haben und mit heller Begeisterung antworten.

Noch nicht ausverkauft: Auftritt im Bremer Weserstadion, 5.6.