Ein Plädoyer für neue Wirklichkeiten

NETZWELT Literatur und Cyberspace, passt das zusammen? Im Literaturforum im Brecht-Haus ging es um die Möglichkeiten literarischer Blogs

„Guten Abend, ich bin die Wirklichkeit.“ Das, sagte Peter Glaser, Schriftsteller, Journalist, Blogger und Urgestein der Hackerszene, schien die eigentliche Nachricht des „Tagesschau“-Sprechers zu sein, wenn er um 20 Uhr Deutschland begrüßte. Glaser wollte selbst Wirklichkeit werden. Mit Freunden vom Chaos Computer Club vernetzte er Computer miteinander und verbreitete seine eigenen Inhalte. Das war in den 80er Jahren, lange bevor das Internet die Haushalte Deutschlands eroberte.

Heute, 30 Jahre später, kann jeder Teil der Öffentlichkeit sein und eigene Wirklichkeit verbreiten. Das war auch die Botschaft des Podiumsgesprächs, das Glaser am Donnerstag im Literaturforum im Brecht-Haus moderierte. Eigentlich sollte es um literarische Blogs und deren Besonderheit gehen, das Gespräch entwickelte sich aber zum leidenschaftlichen Plädoyer für die Möglichkeiten des Internets und der Vernetzung im Allgemeinen.

Zunächst stellte Glaser die Vielfalt literarischer Blogs vor. Neben Autorenblogs etwa von Elfriede Jelinek oder Wolfgang Herrndorf zeigte er einen Blog über die Briefe Annette von Droste-Hülshoffs und Twitter als Form des Microbloggings. Auch über die Bemühungen großer Verlage, das Lesen ins digitale Zeitalter zu tragen und damit neue Kunden anzusprechen, sprach er. „Social Reading“ nennt sich das Konzept, bei dem – wie bei Facebook – in Communitys Diskussion und Austausch stattfinden sollen. Nur eben über Bücher. Das funktioniert noch nicht so richtig. Auch die Anzahl der Autoren, die bloggen, ist in Deutschland eher klein. Noch ist literarisches Bloggen ein Nischenthema, Glaser und seine Gäste sind die Ausnahmen in der literarischen Szene.

Denn für Glaser und seine Gesprächspartner Nikola Richter, Jan Kuhlbrodt und Alban Nikolai Herbst, allesamt Internet-Enthusiasten, ist das Bloggen längst Alltag. Richter schreibt Blogs und gibt Blog-Workshops, Kuhlbrodt lässt sich auf seinem Blog „Postkultur“ über Kunst, Philosophie und Demokratie aus. Und Alban Nikolai Herbst ist Betreiber eines der ambitioniertesten Autorenblogs Deutschlands namens „Die Dschungel.Anderswelt“, ein Gestrüpp an Texten, die miteinander verlinkt sind, weiterentwickelt und verändert werden und ausgedruckt ein Monstrum an Roman ergeben würden. Sein Blog ist für Herbst nicht nur Präsentationsplattform oder Arbeitswerkstatt – es ist Teil seines literarischen Schaffens. Sogar ein Buch hat er darüber geschrieben, die „Kleine Theorie des Literarischen Bloggens“. Das ist gedruckt, editiert, verlegt. Denn am Ende steht – noch – das gedruckte Wort. Auch das war, trotz heftigen Verneinens der Teilnehmer, ein Fazit des Gesprächs.

Vorteil: das Dialogische

Das Interessante am Bloggen, erzählte Herbst, sei das Dialogische. Dabei würden die Grenzen von Realität und Fiktion endgültig vermischt. Niemand wüsste, wer real ist und wer fiktiv in der Unterhaltung zwischen Autor und Leser im Netz.

Das Internet und das Bloggen im Besonderen untergräbt herkömmliche Realitäts- und Authentizitätskonzepte, bietet Möglichkeiten der interkulturellen Vernetzung, schafft Plattformen für neue Sichtweisen und ist generell großartig, darin waren sich alle einig. Doch was bedeutet Bloggen nun für die Literatur? Bei vielen Autoren ist Bloggen noch immer verpönt. Etwas, das halt die Leute ohne Verlag machen, die sonst keine Möglichkeit haben, ihre Texte zu veröffentlichen.

Ob und wann sich das ändern wird, ob es eine spezifische Poetik des literarischen Bloggens gibt, was im Editionsprozess mit den kommentierten Texten passieren sollte, wie die Kritik mit den literarischen Texten im Internet umgehen könnte – all diese Fragen blieben unbeantwortet im Brecht-Haus. Genug Stoff für weitere Veranstaltungen.

INGA BARTHELS