Das Peinliche ist produktiv

Die Brüste der Muse küssen: Weil die Protagonisten in Lothar Lamberts neuem Film „Küss die Kamera“ aus Wien kommen, geht es selbstverständlich auch um Macken

Lothar Lambert ist Familienfilmer mit einer Konsequenz, die hierzulande einmalig ist. Seit Jahren wirken seine Filme, deren Übergänge zwischen Dokumentation und Fiktion fließend sind, wie die lose aneinander gereihten Kapitel eines selbstreferenziellen Buches. In dem einen Film spielt man einen anderen, im nächsten sich selbst. Im Umfeld der Lambert-Familie gibt es ja auch Leute, die selber Filme machen. Dagmar Beiersdorf, die in „Kuck mal, wer da filmt“ (1998) etwa von ihrer Freundschaft mit dem liebenswerten Moabiter Filmemacher erzählte, oder den aus Wien stammenden Undergroundregisseur Carl Andersen, der Lambert in „Killing Mom“ einen leicht spießigen Familienvater spielen ließ und in Lamberts „Verdammt in alle Ewigkeit“ (2000) die Rolle des windigen Wiener Filmemachers „Carl Andersch“ übernahm. Im Grunde genommen geht es immer um Spiegelverhältnisse und vielleicht um einen aufklärerischen, beispielhaften Narzissmus, wenn wir die Lambert-Familie als ein Modell der Gruppenbeziehungsverhältnisse verstehen, in denen wir selber leben.

In seinem neuen, schönen Dokumentarfilm „Küss die Kamera“ porträtiert Lambert den geistesverwandten Carl Andersen und den ebenfalls aus Wien stammenden Schauspieler Erwin Leder. Andersen kam Anfang der 90er nach Berlin und macht seit den 80ern seltsame kleine, gern trashige, oft selbstfinderisch motivierte Filme, die von sexuellen Wünschen und meist scheiternden Beziehungen handeln. Sein Geld verdient er in der Videothek „Negativeland“. Der Schauspieler Erwin Leder hat oft böse Menschen gespielt, ist mit der Rolle eines Maschinisten in „Das Boot“ berühmt geworden, spielt Theater und hat bei Andersen-Filmen mitgemacht.

„Küss die Kamera“ zeigt den einen durch den anderen. Manchmal stehen sie auch nebeneinander und küssen die Brüste einer schönen, nackten Muse. Denn irgendwie geht es auch um Urszenarien und die Suche nach der Macke, die den Motor der künstlerischen Produktion in Gang gesetzt hat. Andersen erzählt, wie ihn sein Vater, als er 15 war, nach einem Opernbesuch in das Puff (wie es auf Wienerisch heißt) geschickt hat. Leder, der zwischen psychisch Kranken aufwuchs (sein Vater war Psychiater), berichtet ausführlichst aus seiner SM-„Sklavenlehrzeit“. Beide rauchen ständig, während sie sprechen.

Das Filmen und das Schauspielern erleben beide als existenzielle Akte. Leder sagt, Andersen lebe nur, wenn er filme. Der Film ist der Rahmen seines Lebens einerseits, und andererseits wird Andersen immer total nervös, wenn Lamberts Kamera auf ihn gerichtet ist. Doch genau mit diesem Druck arbeitet auch er: Die halbprofessionellen oder amateurischen Schauspieler Andersens (und auch Lamberts) müssen in Andersens Filmen ja oft nackt sein, um den Blicken der imaginären Zuschauer standzuhalten und so Kontur zu gewinnen. Das Peinliche ist produktiv. Während Andersen auf dem Unterschied zwischen Film und Leben beharrt, sich vielsagend weigert, detaillierter als „Ich bin eher lesbisch“ über seine sexuellen Vorlieben zu sprechen, die den indiskreten Lambert interessieren, berichtet Leder frei heraus. Zwischen vielsagendem Schweigen und indiskretem Sprechen entsteht das (künstlerische) Ich als Effekt, hätte man in den 80ern gesagt und die grundsätzlich perverse Konstruktion des Films gelobt, der gleichzeitig auch ein schönes Porträt von Pankow ist. Schließlich kommen dort, im Kino der Brotfabrik, Lamberts Filme auch immer heraus, als gelte es, selbst das Publikum zur Familie zu verschweißen. DETLEF KUHLBRODT

Lothar Lambert: „Küss die Kamera“, 2005, 75 Min., ab heute in der Brotfabrik, 21 Uhr