JOSEF WINKLER ÜBER ZEITSCHLEIFENUR NOCH KNAPP 1.300 TAGE BIS ZUR NÄCHSTEN BUNDESTAGSWAHL!
: Westerwelle wegdrücken

Der Radiowecker springt an, und als ob Aufgewecktwerden weiß Gott nicht schon der Unbill genug wäre, labert: der Westerwelle. Und als ob Aufgewecktwerden mit Westerwelle nicht schon Grund genug wäre, um acht Uhr früh vor dem noch jungen Tag zu kapitulieren, antwortet der W. auch gerade noch aufsässig „selbstbewusst“ – wobei „selbstbewusst“ bei Leuten wie dem W. ja synonym mit „schmerzfrei“ zu verstehen ist – auf Erkundigungen des Interviewers, wie er denn zu dem monumentalen Zustimmungsverlust seiner Partei im aktuellen „ARD-Deutschlandtrend“ stehe, von 15 Prozent bei der Bundestagswahl fast halbiert auf 8, innerhalb von 100 Tagen?

Er werde sich „jetzt nicht von Umfrageergebnissen beirren lassen“, sagt der W., als sei der „Deutschlandtrend“ etwas, das Frühstücksradiokomiker in der Fußgängerzone veranstalten, und als sei seine Mövenpickpartei nicht gerade aufs Empörendste aufgeflogen mit etwas, das „Klientelpolitik“ genannt wird und für Laien wie mich halt ganz normal wie Korruption aussieht. (Was bei Laien wie mir Fragen aufwirft wie: Müsste da jetzt nicht jemand ermitteln oder so?) Da fällt mir der Satz unseres von mir außerordentlich verachteten Wirtschaftsministers Rainer Brüderle ein, an den ich mich immer wieder ungern zurückerinnere, den ich mir aber zwischendurch zu Gemüte führe, um nicht aus dem Fokus zu verlieren, mit was für Leuten wir es bei dieser Regierung zu tun haben. Es ist jener von gruseliger Intellektuellenverachtung, piefiger Wichtigtuerei, kindischer Arroganz und blanker Verantwortungsverweigerung kündende Satz, mit dem Brüderle im Herbst, gerade zweieinhalb Wochen im Amt, über die gewichtigen Bedenken der Wirtschaftsweisen gegen das infame „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ verbalurinierte: „Ratschläge von Professoren können das Nachdenken der Politiker nicht ersetzen, darum sind sie ja auch Berater und nicht Entscheider; die Entscheider werden gewählt.“

Ja, sie werden gewählt. Seit September versuche ich mir die Motive jener Wechsel- und Erstwähler vor Augen zu führen, die es sinnig fanden, in den Trümmern der von rasendem Neoliberalismus herbeigeführten schlimmsten Wirtschaftskrise seit anno Tobak – featuring jeden normalen Steuerzahler und Sparer verhöhnende Sofortmaßnahmen für in die Bredouille geratene Finanzdicksäcke – haargenau bei einer Partei von rasenden Neoliberalen ihr Kreuzchen zu machen. Und sosehr ich auch überlege: Meine Fantasie reicht immer nur aus, um mir Gier und Doofheit vorzustellen. Und Menschen, die allen Ernstes glaubten, die von der FDP stumpf in Aussicht gestellten Steuersenkungen würden ihnen, – man möchte sich scheckig lachen – gerade IHNEN zugutekommen. Die jetzt erkennen, dass sie schon ein Hotel oder 40 besitzen müssten, um an irgendeiner nennenswerten Wachstumsbeschleunigung partizipieren zu können. Und die, so wünsche ich es mir und ihnen, einen zumindest mittelgroßen Arschbiss der Erkenntnis verspüren werden, wenn sie in ein paar Monaten ihre Kinder nicht mehr ins Schwimmbad bringen können. Weil das zumachen musste, weil ihre Kommune kein Geld mehr hat für solchen Firlefanz.

Ich drücke den Westerwelle weg und versuche noch etwas Schlaf zu kriegen. Wühlende, unerwünschte Hassgefühle betäuben und Zeit totschlagen. Versuchen Sie’s positiv zu sehen: 101 haben wir geschafft. Nur noch knapp 1.300 Tage bis zur nächsten Bundestagswahl.

Hinweis:Westerwelle weg? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann geht LAUFEN