Lecker Sülze mit Unkraut

PRENZLAUER BERG Tim Raue hat ein Restaurant im Paralleluniversum der alten Bötzowbrauerei eröffnet. Zu Besuch im „La Soupe Populaire“ zwischen Industrieromantik, moderner Kunst und ausgestopften Tieren

Es gibt ein Motiv im Werk von Tomi Ungerer, das sich aufdrängte, wenn man die umgestaltete Bötzowbrauerei am Freitag betrat, dem Tag nach der Eröffnungsparty. Wie Hans Georg Näder, Chef der Otto-Bock-Gruppe, Kunstsammler und Eigentümer des als „Bötzow Berlin“ vermarkteten Areals im neuen Restaurant von Tim Raue saß: Das hatte was von Ungerers Lieblingshelden, den genialen Wissenschaftlern, Räubern oder Menschenfressern, die sich in Schlössern verbarrikadieren und einen, sagen wir, höchst ungewöhnlichen Kontakt zur Außenwelt pflegen.

Während in der Prenzlauer Allee die Trams vorüberrauschen und Menschen zum Zahnarzt hasten, betritt man mit der Brauerei eine Art Paralleluniversum. Alles, was hier industriellen Charme hatte – die Flaschenzüge, Röhren, Ventilräder und Kessel – blieb weitgehend erhalten. Was hinzukam, kann man als moderne, sehr zurückhaltende Antwort lesen: Die Toiletten, die Türen und nicht zuletzt die stählerne Galerie, die über allem schwebt: Tim Raues „La Soupe Populaire“ – die „Volksküche“ also. 54 Gäste fänden hier Platz, doch an diesem ersten Mittag sind nur zwei Tische besetzt.

Kaum schauen wir auf den Ausstellungsraum, der vom Berliner Duo Eva & Adele hübsch bunt bespielt wird, kommt die Karte. Das Menü, so die Restaurantleiterin, ist dem jeweiligen Ausstellungsthema angepasst. Es gibt Schabefleisch-Stullen und Berliner Leber, wir wählen Königsberger Klopse (18 Euro) und Schweinesülze mit sauer eingelegtem Gemüse (12 Euro). Nicht gerade „Volksküchen“-Preise, aber die Klopse sind wunderbar zart und die Sülze raffiniert gewürzt. Das Schönste ist die Deko: Vogelmiere, für gewissenhafte Gärtner bloßes Unkraut. Hier auf dem Gelände wächst es sicher überall. Und es schmeckt herrlich nussig, lehrt uns Tim Raue.

Die raue Schönheit SoHos

Nach dem Essen bekommen wir eine Führung. Hinten eine Bar mit ausgestopften Bären und Füchsen: Im „Le Croco Bleu“, mixt abends Gregor Scholl vom „Rum Trader“ Cocktails. Die Küche der „Soupe Populaire“ befindet sich in einem Glaskasten unter der Galerie, davor ein langer Tisch. Hier sitzt Bötzow-Besitzer Hans Georg Näder und gerät sofort in weltmännisches, aber angenehmes Plaudern: über New Yorks SoHo, dessen raue Schönheit hier Pate gestanden hat. Über Pekings Kunstquartier 798, das auch an vieles hier erinnert. Näder sagt, dieser Ort werde eines Tages sehr lebendig. Er meint nicht nur das geplante Edelhotel, sondern auch das „Zukunftslabor“ von Otto Bock, dem Weltmarktführer in Prothesen. 200 Mitarbeiter sollen hier in einem Think Tank und einer orthopädischen Werkstatt arbeiten.

Viel hat man schon gelesen, wie schick und reich der Prenzlauer Berg geworden sei. Als wir die Bötzowbrauerei verlassen und etwas verwirrt in die Sonne blinzeln, haben wir trotzdem das Gefühl, als stiegen wir aus einem Raumschiff. Oder eben aus einem jener Schlösser von Tomi Ungerer, in denen ein sympathischer Einzelgänger an einer Welt bastelt, von der der Rest der Menschheit noch lange nichts ahnt. SUSANNE MESSMER