Licht mit Kussmund

Verschmitzt oder verschattet: Mit Marlene Dumas’ Porträtserie „Female“ zeigt die Kunsthalle Baden-Baden eine ihrer schönsten Ausstellungen

Ein Rest von Geheimnis und Unsicherheit bleibt: Können wir der porträtierten Person nahe kommen oder nicht?

von GEORG PATZER

Der ganze große Raum ist voller Frauen. Über zweihundert. Dicht gedrängt hängen sie nebeneinander, im leicht abgedunkelten Saal, übereinander, in schier endlosen Reihen. Es gibt keinen Ausweg: Die Frauen schauen von der Wand herunter, gleichgültig, abweisend, unnahbar. Gleichzeitig sind sie berührend, offen, anziehend.

Es ist hohe Kunst, die Marlene Dumas jetzt in der Kunsthalle Baden-Baden unter dem Titel „Female“ zeigt, eine Kunst, die unbestimmt bleibt, unauslotbar, facettenreich. Ihre Porträts sind auf den ersten Blick sehr flächig: Mit nur wenigen Tuschestrichen setzt sie Umrisse und kleine aquarellistische Schattenakzente, Nasen und Münder sind oft mehr angedeutet als ausgeführt, Details wie Wangenknochen, Falten oder Wimpern lässt sie meistens ganz weg. Die Augen sind wichtig, auch wenn sie oft im Dunkeln liegen oder nur als Schlitze aus dem Gesicht herausstechen.

Manches Porträt ist leicht und locker, mehr verschwimmendes Licht mit vorgestülptem Kussmund als wirkliche Zeichnung. Andere sind schattenverhangen, voll fleckiger, sich verdüsternder Tusche. Selten einmal setzt Dumas mit Blau, Gelb oder Grün farbige Akzente. Auf nasses Papier gemalt, spielt Dumas mit den verfließenden Konturen, dem durchscheinenden Licht und der sich verdichtenden Dunkelheit.

Aber trotz aller scheinbaren Flächigkeit: Jedes einzelne Porträt zeigt eine Persönlichkeit. Dumas’ grobe Zeichnung trifft einen Kern, ohne, wie in Karikaturen, zu überspitzen oder zu vergröbern. Mit kleinem malerischem Aufwand zeigt sie eine Verschmitztheit, eine Verschattung, eine innere Ruhe, ein Misstrauen, ein Zögern, Nachdenklichkeit oder Trauer. Alle sind prägnant und doch irgendwie verschleiert, sie sind distanziert und geben sich preis, sind fern und nah gleichzeitig, öffnen sich und verschließen sich wieder. Sie werden lebendig und bleiben doch schemenhaft, lassen sich nicht durchdringen und setzen doch etwas im Betrachter in Gang, das sich fein und schleichend in ihm einnistet und noch lange leise mit ihm spricht.

Dumas hat ihre nummerierten „Female“-Porträts 1992 und 1993 nach selbst gemachten Fotos, Abbildungen aus Zeitungen oder historischen Gemälden gemalt. Man kann Brigitte Bardot ebenso entdecken wie ein Selbstporträt der Künstlerin als junges Mädchen: Es sind ausschließlich Frauen. Aber nicht nur die Persönlichkeiten der Frauen waren ihr wichtig, mehr noch ihre und unsere Blicke: „Was mich interessierte, war, wie die Personen in die Kamera schauten […] und was andere Leute hineinlesen könnten und würden.“ So bleiben ihre Arbeiten ambivalent, geheimnisvoll und offen. Und es bleibt immer ein Rest Unsicherheit, ob wir der Person näher kommen können oder nicht.

Sehr reflektiert sind diese Porträts. Der nicht steuerbare Rezeptionsprozess ist ebenso in das Werk eingeflossen wie ein reifer Feminismus, der sich nicht festlegen lassen will auf eine bestimmte Rolle der Weiblichkeit. „Female“: Das sind alle Frauen, das ist Frauheit an sich in allen Varianten. Unser Blick erfasst dabei eine Oberfläche und ein Innenleben, aber beides verändert sich, lässt sich nur mit Gewalt festlegen, ist Täuschungen und Selbsttäuschungen unterworfen.

Die Ausstellung in der Kunsthalle Baden-Baden zeigt neben den 211 Porträts noch etwa 40 andere Arbeiten. Erstmals werden Dumas’ frühe Skizzenbücher gezeigt und ein Poesiealbum aus den Sechzigerjahren, in denen man Anklänge an spätere Bilder erkennen kann. Einige verblüffende Öl- und Acrylbilder ergänzen die beeindruckenden Frauenporträts, manche flächig und ausmodelliert, mit harten, trockenen Pinselhieben, dass die Ölfarbe einen spröden, porösen Strich hinterlässt. Andere mit leichtem, fast aquarellistischem Duktus, die Farbe nur auf die Leinwandhaut gestreichelt oder gehaucht. In einem Gang läuft man auf ein gut anderthalb Meter hohes Bild zu, das einen weiß gekleideten Menschen zeigt, der eine kleine, braune Leiter trägt, rechts hängt ein „Prophet“, ebenso in weiß, der mit ausgebreiteten Armen seine Jacke auszuziehen und irgendwie zu schweben scheint und eine leuchtende Präsenz verströmt.

Einen kleinen ästhetischen Schock bereiten die Bilder im letzten Raum: Da baumelt ein gehenktes Mädchen von einem Strick, da steht fast drei Meter groß „Magdalena, Patron of the Hairdressers“, da schwebt „Warhol’s Child“. Neben den drei riesigen Gemälden hängt klein ein Gesicht, von einem Tuch halb verdeckt: „Death of the Author“. Nur vier Bilder, aber so genial in das Weiße des Raums hinein komponiert, dass man sie atmen hört, im Windzug schaukeln, mit den langen Schlingpflanzenhaaren knistern. Ebenso der letzte Raum, der mit einem Riesenporträt eines Mannes und einem liegenden Körper, dunkel, mit leichten Lichtpunkten nuanciert, den Betrachter bannt.

„Female“ ist eine vom ehemaligen Kunsthallendirektor Matthias Winzen und der Künstlerin lebendig und eindrucksvoll, intensiv leuchtend komponierte Ausstellung, eine der schönsten, die man in Baden-Baden je sah. Da lohnt sich auch eine weite Anfahrt.

bis 26. Februar, Katalog (Snoeck Verlag) 22 €