PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Blau ist Rot und Rot ist Grün

Diplomatie ist die Kunst, A zu sagen und B zu meinen, damit C erreicht wird. Ich kann es nicht

Die abgenutzten Kohlen am Elektromotor einer Märklin-Eisenbahn auszuwechseln ist nicht besonders schwierig. Man muss das Ding nur aufschrauben und ungefähr verstehen, wie so ein kleines Motörlein funktioniert. Einen Selbstmörder vom Sprung aus dem siebten Stockwerk abzuhalten ist auch nicht schwer. Man muss nur den richtigen Ton treffen und ungefähr verstehen, was in diesem Menschen gerade vorgeht. Ja, fast alles auf dieser Welt ist eigentlich ganz einfach, vorausgesetzt, man versteht. Wer nicht versteht, wird mit dem Schraubenzieher die Eisenbahn zerstören. Und der Selbstmörder wird springen.

Vor dem eigentlichen Verstehen aber kommt das Verstehenwollen. Man schraubt zunächst also die Abdeckung der defekten Märklin-Lokomotive ab und überlegt sich, warum sie nur noch stotternd läuft. Man schaut und denkt und schaut und denkt eine Weile, so kommt man schließlich auf die Kohlenbürste, tauscht sie gegen eine neue aus, und das Züglein fährt wieder einwandfrei.

Nach demselben Prinzip versuche ich alle Vorgänge auf dieser Welt zu verstehen: Schauen, denken, schauen, denken (und gegebenenfalls aufschrauben). Meist funktioniert das. Sogar bei sich selbst. Wer einmal eine Weile neben sich steht – schaut und denkt und schaut und denkt –, weiß hinterher sehr viel mehr über sich selbst als vorher.

Es gibt nur ein einziges Ding, einen einzigen Lebensbereich, einen einzigen Berufsstand, bei dem Verstehenwollen so wenig weiterhilft wie Nachfragen oder Lehrbücher lesen: Diplomatie und Diplomaten sind unverstehbar. Man schaut ihnen bei ihrer Arbeit zu und hat doch keine Ahnung, was sie wirklich denken, wie sie fühlen, was sie bezwecken wollen. Diplomatie ist die Kunst, nicht zu zeigen, was man wirklich vorhat.

Der derzeitige deutsche Außenminister gilt als großer Diplomat. Er kann in einem Atemzug in eine Fernsehkamera sagen, er sei gegen den Irakkrieg, und zwei Minuten später im Pentagon anrufen und deutsche Agenten zu Verfügung stellen. Er kann Putin für einen der größten Politganoven halten und ihn gleichzeitig umarmen und ihm „lupenreine“ demokratische Zeugnisse ausstellen. Das war im konkreten Fall zwar Altkanzler Gerhard Schröder, doch im Hintergrund war da immer der Chef des Kanzleramts, Frank-Walter Steinmeier, der Kanzlerflüsterer.

Schizophrenie ist ein Krankheitsbegriff. In der Diplomatie ist es der Normalzustand. Diplomaten, die sagen, was sie denken, erhalten am nächsten Tag in der Regel ihre Entlassungsurkunde. Um einen Diplomaten zu verstehen, muss man wahrscheinlich selbst Diplomat sein. Man muss wissen, dass, wenn er A sagt, B meint, um C zu erreichen. Mit einem Diplomaten verheiratet zu sein, muss eine wirklich schlimme Angelegenheit sein. Dass Diplomatie die Kunst sei, mit hundert Worten zu verschweigen, was man mit einem Wort sagen könnte, ist wohl die bekannteste Definition.

Unter meinen Traumjobs rangierte lange Zeit „dänischer Botschafter auf den Malediven“ ganz weit vorne. Von mir aus auch „Generalkonsul der Schweiz in Barcelona“. Oder „deutscher Militärattaché in Island“. Nach einem gemütlichen Frühstück die Zeitungen des Landes lesen, dann einen Bericht fürs Auswärtige Amt über die Party am Vorabend verfassen und am Nachmittag die Botschafter-Gattinnen der Europäischen Union zu einem Informationsgespräch mit Kuchen empfangen.

Zufällig geriet ich vor kurzem auf die Internetseite des Auswärtigen Amtes und erschrak. Nicht nur, weil da noch immer Joschka Fischer zu mir sprach. Auch das, was er dort über die Ausbildung zum „höheren auswärtigen Dienst“ zum Besten gibt, wollte so gar nicht zu meinem Bild vom Diplomatenalltag passen: „Sie werden nicht von Empfang zu Empfang, von Party zu Party hasten“, schreibt da der ehemalige grüne Außenminister. Stattdessen müsse man als Diplomat „umfangreiche Berichte verfassen und deutsche Touristen auch am Wochenende beraten“.

Mich kann Fischer damit nicht hereinlegen.

Fragen zu A, B oder C? kolumne@taz.de Montag: Peter Unfried über CHARTS