Sonnenanbeter

Vier Monate lang liegt Svalbard in der Dunkelheit. Kein Wunder, dass man die Rückkehr der Sonne im März mit einem Fest begeht

In der Winterzeit ist man sozial, sitzt im Kaffeehaus und tobt sich bei „Indoor“-Sportarten in der Schwimm- oder Kletterhalle aus. Es ist zu dunkel, um auf Tour zu gehen. Geduldiges Warten auf das Licht und den Frühling. Der Sommer ist kurz hier, er verfliegt viel zu schnell. Schon im August wird der Winter wieder da sein. Das Warten beginnt dann von Neuem. Roger Daniloff, der einen Teil seiner Kindheit auf Svalbard verbracht hat, erinnert sich: „Ich war jedes Jahr happy, wenn ich im Spätwinter das erste blaue Licht hinterm Gletscher im Süden sah und nicht mehr alles kohlrabenschwarz war!“

Noch liegt der Hauptort Longyearbyen im Schatten der umliegenden Berge – nur die schneebedeckten Gipfel auf der anderen Seite des Fjordes sind bereits in orange-gelbliches warmes Licht getaucht. Überwältigend schöne Schneelandschaft und klirrend-kalte Luft. Darüber zieren rosa Wolken den zartblauen Himmel.

Alle warten auf den Tag, den 8. März, wenn die Sonne endlich zurück in den Ort kommt. Dann wird gefeiert, und es ist Tradition, dass sich Klein und Groß bei der alten Krankenhaustreppe versammeln. Die Treppe wurde vor einigen Jahren wieder aufgebaut, nachdem das alte Krankenhaus abgetragen wurde. Es heißt, dass „die Sonne zurück erklärt wird, wenn Sonnenstrahlen auf diese Treppe fallen“. Auf Svalbard, fast auf der Spitze der Erdkugel, leben ca. 3.000 Personen und 1.800 von ihnen wohnen in Longyearbyen. Alle sind zur Stelle, um die Sonne zu begrüßen: KohlebergarbeiterInnen, UniversitätsprofessorInnen, FremdenführerInnen, Kinder, LehrerInnen, Trapper, KellnerInnen …

Das Sonnenfest hat eine lange Tradition auf Svalbard. Zuerst feierte man nur den 8. März, später hat sich daraus ein Wochenende entwickelt, und heute dehnt sich das Fest über acht Tage mit vielen Veranstaltungen. Das Programm der Sonnenfestwoche ist vollgestopft mit Arrangements für Kinder und Erwachsene. Es finden Konzerte statt, Ausstellungen zum Thema Sonne werden eröffnet und Gottesdienste gefeiert. Der Sportverein lädt ins Schwimmbad ein zum „Sonnenbaden mit Frühstück“. Abends zieht die „Wasserdisco“ vor allem junges Publikum an.

Besonders beliebt ist das Schlittenrennen, das jedes Jahr von den StudentInnen der nördlichsten Universität der Welt organisiert wird. Voraussetzung bei der Teilnahme am Wettbewerb ist ein selbst gebastelter Schlitten. So tüftelt der eine oder andere Dorfbewohner wochenlang an einem Gewinner-Gefährt. Auf den lustigsten Basteleien rutscht man schließlich den Hügel hinunter in die Zielgerade. Preise gibt es für den schönsten, den kreativsten Schlitten, ebenso für die schnellsten und langsamsten Fahrer.

Heute gibt es keine Sonne am Himmel. Es ist grau, bewölkt und Schneeflocken tänzeln unschuldig, nichts ahnend von dem „großen Tag“, umher. Ein Schneesturm braut sich zusammen, als ob er Sinn für Theatralik hätte. Trotzdem wird das Sonnenfest veranstaltet und die Kinder des Ortes kommen aus der Schule und dem Kindergarten ins Freie zur besagten Treppe. Sonnenlieder werden gesungen. Hört man richtig hin, so haben sich da ein paar amerikanische Weihnachtslieder drunter geschummelt. Neben der Rennstrecke ein Grillfest und dampfend heiße Getränke. Viele Kinder sind in gelbe Sonnenschals gewickelt oder tragen stolz ausgepolsterte Plüschsonnenstrahlen am Kopf. Obwohl es heiße Limonade gibt, macht sich die Kälte – es hat ca. minus 25°C –nach einer Weile bemerkbar. Schneegestöber. Der Ort muss wohl noch ein paar Tage auf die Sonne warten.

Doch plötzlich zeigt sich die Sonne. Zum ersten Mal seit über vier Monaten kann man direkt in diese leuchtende Kugel gucken. Strahlende Gesichter blinzeln vergnügt in die Sonne. Spontaner Jubel, Freude, ein tolles Gefühl! Die schönsten Augenblicke sind eben nicht planbar. Endlich kann man auch seinem Schatten wieder guten Tag sagen.

Einige Bewohner der hocharktischen Inselgruppe wollten nicht so lange warten und hatten schon in den letzten Tagen Touren unternommen – der Sonne entgegen. Mit Motorschlitten oder auf Skiern ging es auf die Berge. Aug in Aug mit der Sonne. Sonnenstrahlen auf blasser Winterhaut. Vergessen sind die eiskalten Finger und die etwas gefühllosen Zehen.

Im Huset, dem Kulturhaus und Restaurant, wird weiter gefeiert. Modenschau, Kabarett. Vor den Fenstern glitzern die Eisskulpturen, die die Kinder heute Nachmittag geschnitzt haben. Beim Dinner erzählt Karin Jusnes (wie jedes Jahr) ihren Freundinnen, dass sie ihren jetzigen Mann Per beim Sonnenfest vor 26 Jahren kennen gelernt hat. „Und seitdem scheint für mich immer die Sonne“, schmeichelt sie ihm. VALESKA SEIFERT