Die Knigge-Frage

VON ARNO FRANK

Es gibt Situationen, in denen die Routinen der Freundlichkeit plötzlich in einem anderen, verdächtigen Licht erscheinen. Ist ein fröhliches „Ihnen auch noch einen schönen Tag!“ wirklich angebracht, wo die Adressatin oder der Adressat noch fünf Stunden Stoßzeit hinter einer Kasse vor sich hat?

Wem beiläufig ausgesprochene Wünsche mehr sind als nur Floskeln, dem dürfte dieser innere Zwiespalt nicht fremd sein. Vor allem dort, wo er es mit Menschen zu tun hat, denen, wie Knigge schreibt, „das Glück nicht gerade eine so reichliche Summe nichtiger zeitlicher Vorteile zugeworfen hat wie uns“. Zwar solle man „gegen diese Leute“ stets „höflich und freundlich“ sein, es damit aber auch „nicht übertreiben“. Sonst spüre der „leidende Teil“, dass ihm „nur ein mildtätiges Almosen der Höflichkeit“ dargereicht werde.

Was denn nun? Das Kapitel, in dem der Freiherr diese Weisheiten ausbreitet, lautet „Vom Umgang mit Geringeren“. Ist wirklich „geringer“, wer seinen Lebensunterhalt im Dienstleistungsgewerbe verdient und momentan eben arbeitet, anstatt einzukaufen? Woher die Scheu, einem arbeitenden Menschen einen „schönen Tag“ zu wünschen?

Wahrscheinlich aus der Furcht, zynisch zu erscheinen – indem wir jemandem etwas wünschen, von dem wir annehmen, dass es ihm unmöglich zuteil werden kann. Hier liegt der Fehler, wie gezielte Nachfragen bei „Geringeren“ gezeigt haben. Leicht verwundert und unisono lautet die Antwort: „Dass ich arbeiten muss, heißt doch nicht, dass ich keinen schönen Tag haben kann!“

Hinter Frage und Antwort erheben sich die Umrisse eines perfideren Problems; dass nämlich allzu wahllos verteiltes Mitleid die subtilste Form der Herablassung ist. In diesem Sinne: Ihnen auch noch einen schönen Tag!

Diese Frage stellte Philipp Heyde, Hamburg. Sie haben eine Benimm-Frage? Mailen Sie an knigge@taz.de