München leuchtet

HASS „Wir würden nie zum FC Bayern München gehen“, grölten wir einmal mit den Toten Hosen. Und heute? Schwärmen wir: diese Spielfreude, die Laufwege, der Ballbesitz! Vom Ende eines Feindbilds

113.551 Meter hat Bastian Schweinsteiger insgesamt bei allen Spielen der Champions League in dieser Saison zurückgelegt. Keiner ist mehr gelaufen als er Quelle: Uefa-Homepage, Spieler-Statistiken

27 Mitglieder hat der Dortmunder Fanklub des FC Bayern

Quelle: Rote Zelle Dortmund, Stand 22. Mai 2013

6,8 Millionen Suchtreffer hat Arjen Robben bei Google. Das sind 4 Millionen mehr als Franz Beckenbauer Quelle: Google

120. Minute: Brüssel 1974, Finale Europapokal der Landes-meister, München – Atlético Madrid, Hans-Georg Schwarzenbeck schießt, 1:1, Abpfiff. Zwei Tage später gewinnt Bayern das Wiederholungsspiel 4:0. Champions!

1 Tag alt ist wohl das jüngste Vereinsmitglied, geboren und angemeldet heute. Es ist eins von 188.000 Mitgliedern. Jeden Tag kommen Neugeborene hinzu Quelle: Pressestelle FC Bayern

10,5 Millionen Euro überweist die Uefa dem Sieger des Champions-League-Finales. Der Verlierer erhält 6,5 Millionen. Wie die Vereine die Summe unter den Spielern aufteilen, verraten sie nicht Quelle: Uefa

VON THOMAS BECKER
, SEBASTIAN KEMPKENS
, ANDREAS RÜTTENAUER
UND KAI SCHÄCHTELE

Gerade noch hat Olli Banjo Witze gerissen, doch plötzlich ist er ganz still. Er starrt auf den Flachbildschirm, er fummelt an seinem T-Shirt, die Beine wippen auf und ab. 0:2. Es sind nur fünf Minuten gespielt, und Bayern liegt zwei Tore zurück. Gegen Gladbach! Zehn Minuten später, noch immer zwei Tore Rückstand, 1:3, Banjos Glatze und sein Oberlippenbärtchen glänzen vor Schweiß. „Ihr wollt mich doch verarschen!“

Es ist der letzte Bundesliga-Spieltag, eigentlich ein bedeutungsloses Spiel, Bayern ist längst Meister. Aber eben nicht Champions-League-Sieger. Deshalb ist das Spiel gegen Gladbach die Generalprobe. Am heutigen Samstag muss im Finale unbedingt ein Sieg her, gegen Borussia Dortmund, die Mannschaft, die den Bayern zwei Jahre lang auf der Nase herumtanzte, zweimal Meister wurde und die Münchner im letzten DFB-Pokalfinale demütigte. Es geht nicht nur um den Thron in Europa, es geht um die nationale Vormachtstellung. Nicht nur darum, der Welt zu zeigen, dass man tollen Fußball spielen kann. Es geht um den Sieg.

„Mann, ey, wenn wir gegen Dortmund verlieren. Das darf nicht passieren, das darf auf keinen Fall passieren, auf keinsten.“ Olli Banjo, 36 Jahre alt, Rapper, mit bürgerlichem Namen: Oliver Olusegun Otubanjo. Er sitzt in einer Sportbar in Aschaffenburg, vor sich ein Glas Mineralwasser mit Limetten.

Mit seinen Tattoos und dem Kapuzenpulli sieht er aus wie der Gegenentwurf zum Opern-Publikum in der Allianz Arena, den grauhaarig-distanzierten Herren auf der Ehrentribüne, die ihre Plätze nicht einnehmen, solange es in der VIP-Lounge noch Austern gibt. „Ich bin nicht so ein Prosecco-Fan“, sagt Olli Banjo. „Ich bin Fan, seit ich als Kind bei meinem Opa August auf der Couch gesessen und das erste Spiel gesehen habe.“

Vor einigen Jahren hat er ein Lied über seinen Verein geschrieben, darüber, wie seine Freundin ihn vom Fußballgucken abhält. „Geh ausm Bild, Bayern München spielt.“ Auf Twitter folgen ihm 20.000 Menschen, er hat einige Fans verloren damals. Diese Saison ist für ihn „ein Traum“.

Banjo hat erlebt, was es heißt, das Bayern-Hassobjekt zu sein. Als Jugendlicher hat er bei Victoria Aschaffenburg gespielt und in der Bayern-Auswahl. Er hatte die Nummer 9, war Mittelstürmer, und seine Mannschaftskollegen sahen in ihm den zweiten Gerd Müller. Oliver Otubanjo „aus Aschaffeburg, dä Bombä dä Nation“, so nannten sie ihn. Die Auswahlmannschaften der anderen Bundesländer, sagt Banjo, waren gegen Bayern immer besonders aggressiv. „Da wurde schon ganz schön gehated, es gab die ein oder andere Schubserei.“ Das obligatorische „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ war nichts dagegen.

„Tod und Hass dem FCB!“ Es geht nicht immer nett zu in deutschen Stadien. Beim FC Bayern München weiß man das besonders gut. Und doch ist etwas dazugekommen in den vergangenen drei Jahren. Zur reinen Abneigung hat sich Respekt gesellt. Man will sehen, wie die Bayern spielen. Man will wissen, wie das aussieht, wenn eine Mannschaft ein spielerisches Niveau erreicht, mit dem niemand im Land mithalten kann. 91 von 102 möglichen Punkten haben die Bayern in der abgelaufenen Bundesligasaison geholt, ein Rekord, vielleicht für die Ewigkeit.

„Tod und Hass dem FCB!“ Viele, die das singen, sind längst zu heimlichen Bewunderern der Bayern geworden. Der Hass auf den FCB wird mehr und mehr zur Folklore. Plötzlich schwingt Anerkennung mit. Ist das Feindbild FC Bayern München also Geschichte geworden?

„Wer den Fußball wirklich gern hat, freut sich über das, was bei den Bayern im Moment passiert.“ Das sagt Volker Finke. Er ist so etwas wie der Intellektuelle unter den Fußballtrainern, beim SC Freiburg hat er mit dem Kurzpassspiel in den neunziger Jahren eine gefällige Spielkultur etabliert. Der Rest der Liga definierte sich damals als Fußballmuseum und bemühte sich, den Libero in immer neuen Personen schön zu restaurieren. Nun wird Finke Nationaltrainer von Kamerun.

Er hat den Hass erlebt, der dem FC Bayern entgegenschlug. Es war ein Freiburger Jugendlicher, der Oliver Kahn, dem Riesen im Bayerntor, mit einem gezielten Golfballwurf eine Platzwunde am Kopf zufügte.

In erster Linie bin ich Fußballfan. So oft ich kann, bin ich im Stadion zu finden. Am liebsten bejubele ich die deutsche Nationalelf – oder eben das Team des FC Bayern München. Beide Mannschaften stehen für mich ganz persönlich für meine wieder neu gewonnene Heimat. Ich liebe München. Ich liebe die Herzlichkeit der Menschen, die pulsierende, sich ständig verändernde Stadt mit ihrem vielseitigen kulturellen Angebot und der wunderschönen Natur um sie herum. Ich schätze die Weltoffenheit und die Toleranz hier. In meinen Augen spiegelt sich all das auch im Fußball wider. Fairness und Kampfgeist vereinen sich auf dem Weg, gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Diese Energie und der Spirit, der im Verbund von Mannschaft und Fans in der Allianz-Arena spürbar wird, das vermittelt ein unglaubliches Gefühl. Diese Energie wünsche ich mir auch für unser Land. Auf das wir stolz sein können – wie auf den FC Bayern München.

„Ich finde es völlig legitim, dass ein Verein mit weniger Geld ab und zu über Bayern jammert“, sagt Finke – aber blindwütige Kauflust möchte er dem Verein nicht unterstellen. Mittlerweile geht es um mehr beim FC Bayern, um die Entwicklung einer modernen Fußballkultur. „Sie sind immer offen für Dinge, die woanders besser gemacht werden. Sie holen ausländische Trainer und sind bereit für neue Ideen.“

Diese neue Ära begann mit Louis van Gaal, dem strengen Niederländer. Er hat die Bayern zur ballsicheren Mannschaft gemacht, in der jeder Spieler immer ganz genau weiß, wo sich seine Kollegen auf dem Platz aufhalten. Van Gaal war es auch, der den Verantwortlichen zeigte, dass man nicht nur in anderen Mannschaften wildern muss, um gute Spieler zu entwickeln. Er hat aufgeräumt mit der Führungsspielerdiktatur, die die Trainer vor ihm auf dem Platz installiert haben. Die Zeit der Ansager, Matthäus, Augenthaler, Effenberg, war vorbei. Beim FC Bayern gab es plötzlich flache Hierarchien, Spieler aus der zweiten Mannschaft wurden gefördert, es kamen Alaba, Müller, Badstuber. Alle, aber auch wirklich alle spielten und arbeiteten gemeinsam für den Erfolg. So sind sie 2010 Meister geworden und Pokalsieger.

„Da kommt Herzhitze auf“, sagt Zaimoglu

„Doch aus dieser Zeit resultierte auch die Erkenntnis, dass van Gaals Konzept weiter entwicklungsbedürftig war“, sagt Volker Finke. Das hat Jupp Heynckes übernommen. Er brachte den Bayern bei, den Ball nicht nur zu besitzen, sondern ihn auch zu erobern. Beobachten konnte man das bei den Halbfinals der Champions League in diesem Jahr: gegen den FC Barcelona, die Geburtsstätte des modernen Fußballs. Die Welt schaute mit offenen Augen auf den FC Bayern, beide Male spielten sie Hochgeschwindkeitsfußball – und gewannen haushoch. Kann man diesen Klub hassen?

Man kann. Das erlebt Feridun Zaimoglu immer wieder. „Ich komme jetzt mit der Blutgrätsche“, sagt er. „Es mögen einige sagen: Hey, ist ja nett, wie die Bayern spielen. Aber man hasst den FC Bayern München weiterhin.“ Der 48-jährige Schriftsteller und Maler will ein paar Dinge klarstellen, wenn auch nur telefonisch, zwischen Kiel und Berlin. „Ich komme über meine Lesereisen in sehr viele Winkel der Republik“, sagt er. „Es ist ein Wahnsinn. Der alte Hass, der alte Spott – ich habe keinen Stimmungswandel, keine Aufweichung sehen oder fühlen können.“

Seine Leidenschaft – oder sein Leiden, wenn man so will – hat schon früh begonnen. Als Siebenjähriger saß Zaimoglu in München vor dem Fernseher und sah eine Übertragung aus dem Olympiastadion. An den Gegner kann sich Zaimoglu nicht mehr erinnern. Wohl aber an die Trikots der Bayern. Dieses leuchtende Rot, die Farbe des Herzens. „Da war sofort klar: Das ist meine Mannschaft. Da entstand eine Herzensbindung. So stark, dass sich diese Bindung trotz Krisen, Niederlagen und Durststrecken über Jahrzehnte gehalten hat.“ Seine Eltern schenkten ihm noch ein Billigtrikot von Woolworth, ohne Rückennummer und Namensbeflockung, aber in diesem schönen Rot. „Am Anfang habe ich mich nur für den Klub begeistert. Ich hatte zum Beispiel nie Poster an den Wänden. Aber wenn wir im jetzigen Kader so geile Leute haben, die gut spielen, kann ich nur sagen: Da kommt bei mir Herzhitze auf.“

Zaimoglu gehört zu den Fans, die mit ihrem Verein quasi eine Fernbeziehung führen, fern von München, fern von den Spielern. Es gibt auch wenige, die die Spieler wirklich kennen. Die nicht von Ballbesitzquoten oder Gegenpressing reden müssen. Die Anekdoten aneinanderreihen können, die ein anderes Bild vom FC Bayern zeigen. Nicht das eines Haufens arroganter Großverdiener.

Till Hofmann ist so einer. 42 Jahre alt, eine Münchener Größe der Kabarettszene, Chef des Lustspielhauses, der Fußball- und Kleinkunstkneipe „Vereinsheim“ – und der beste Kumpel von Mehmet Scholl, 15 Jahre beim FC Bayern, heute ARD-Fußballexperte. Mit ihm unter anderem gründete er eine Plattenfirma.

Till Hofmann ist Bayern-Fan, schon immer. Mit Mehmet Scholl verbindet ihn nicht nur eine lange Freundschaft, sondern auch der Geburtstag: Sie sind am gleichen Tag zur Welt gekommen und haben oft zusammen gefeiert. Auch im Schwabinger „Vereinsheim“, das ausgerechnet an dem Tag im Jahr 2006 eröffnet wurde, an dem der FC Bayern mal wieder Meister wurde. Und obwohl es an diesem Abend eine hochoffizielle Meisterfeier des Vereins gab, schlugen sechs Profis in Hofmanns Kneipe auf, angeführt von Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger. Noch heute hängen am Hirschgeweih über der Bar Stollenschuhe von Schweinsteiger und Jens Jeremies.

Cool Bavaria also? Für Hofmann keine Frage: „Diese Alpha-Kaschperl wie Kahn und Effenberg waren auch lustig, aber die braucht’s heute nicht mehr. Jetzt sind die Bayern eine Wahnsinns-Mannschaft geworden: im Auftreten, in der Lässigkeit.“

Es muss wahre Liebe sein. Wenn zwei Teams antreten, und eins davon ist der FC Bayern, dann ist klar, für wen mein Herz schlägt. Als Kind habe ich Fußball gehasst. Mein Bruder, der Bayern-Fan, stritt mit mir unerbittlich um die Fernsehhoheit: „Lassie“ oder Bundesliga, „Bonanza“ oder Beckenbauer, mit Ausgang, so einseitig wie die vergangene Bayern-Saison. Ins Stadion ging ich zum ersten Mal meinem Sohn Jacob zuliebe. Natürlich kamen wir zu spät. Natürlich meine Schuld. Der anschwellende Fanchor schwappte mit ungeheurer Energie über den Stadionrand, und ich bekam eine Gänsehaut. Das Spiel reißt mit, und plötzlich schmeißt man sich Wildfremden an den Hals! Für diesen Irrsinn danke ich meinen fußballverrückten Kindern – und dem FC Bayern!

„Nicht easy, Bayern-Fan zu sein“, sagt Tabatabai

In den siebziger Jahren hat eine bayerische Mannschaft des FC Bayern die Grundlage gelegt für die Erfolgsgeschichte, an der seitdem immer weitergeschrieben wird. Die dicken Zigarren, die langen Mähnen, die fünf Meisterschaften, die drei Europapokalsiege, die dicken Lippen und der feine Fuß von Franz Beckenbauer, der zweimal das Traineramt übernahm. Uli Hoeneß führte den Klub aus den Schulden und verhalf ihm durch seine Transfers und seine Geschäfte mit Adidas, Audi und der Telekom zu wahren Reichtümern. Er hat Karl-Heinz Rummenigge, dessen „sexy knees“ einst bis nach England hinauf besungen wurden, zum Chef des Klubs gemacht. Meisterschaft um Meisterschaft wurde geholt, einmal auch die Champions League. Doch eines haben die Bayern nie geschafft. Sie wurden nie für ihr Spiel bewundert. Das hat sich heute geändert, die Bayern sind mit ihrem schönen Spiel zum Maßstab in Europa geworden. Sie gefallen, auch wenn sie einmal nicht gewinnen.

Die Schauspielerin Jasmin Tabatabai gehört zu jenen Menschen, die den Klub als Verlierer kennengelernt haben. Es war der 30. Juni 1972 in Teheran. Tabatabai war ein kleines Mädchen, das mit ihrer Familie im Iran lebte. An diesem Tag spielten die Bayern gegen eine Teheraner Stadtauswahl. Und alle Tabatabais waren im Stadion – alle bis auf die kleine Jasmin, die als Einzige zu Hause bleiben musste. Sie verfolgte im Radio, wie die Teheraner die Bayern mit 6:3 aus dem Stadion schossen. Die Münchner um Sepp Maier, Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß waren erst zwei Tage vorher Deutscher Meister geworden. Teheran stand nach dem Sieg Kopf. Der Kicker schrieb: „Ein müder Meister.“ Und Tabatabai hatte ihre Leidenschaft für diesen Verein entdeckt.

Deshalb lässt sie sich, hochschwanger, auch nach einem anstrengenden Drehtag abends noch in ein Berliner Café fahren. Der FC Bayern also, die neue Liebe der Deutschen? „Quatsch“, sagt Tabatabai, noch bevor sie Käsespätzle mit Salat bestellt. „Die Bayern kriegen vielleicht Respekt, weil sie so eine überragende Saison gespielt haben. Aber insgeheim würden sich die meisten doch freuen, wenn sie im Finale auf die Fresse bekämen und die Dortmunder gewinnen würden.“

Dabei hält sie die Dortmunder für eine sympathische Mannschaft, die Spaß macht. Und Klopp mag sie auch gern. „Aber ich lebe jetzt seit 21 Jahren in Berlin. Es ist nicht easy, hier Bayern-Fan zu sein. Fan von Bremen, Bochum oder St. Pauli – das hören die Leute gern. Doch wenn man sagt, man sei Bayern-Fan, wird es anstrengend. Da gibt es dann viele, die richtig Schaum vor dem Mund bekommen. Und daran hat sich nichts geändert.“

Das Image als Bonzenverein, das hat die Bayern so unbeliebt gemacht. Sie tragen es schon lange mit sich herum. Anders als der Lokalrivale TSV 1860 München, der sich als Mitgliederverein für die Massen gegründet hat und sich bis heute gern als Arbeiterverein bezeichnen lässt, sind die Bayern ein Produkt der bürgerlichen Oberschicht. Ein Ofenfabrikant war es, der dem Klub nach seiner Gründung im Jahr 1900 einen Fußballplatz in Schwabing spendiert hat, auf dem die Söhne besserer Familien ausgiebig ihrer Liebe zum Sport nachgehen konnten. Und doch hat sich die linke Szene in München den FC Bayern als Herzensklub auserkoren. Für sie funktioniert der Verein auch ohne den kapitalistischen Überbau, ohne die Allgegenwart der bayerischen Staatspartei CSU, für die der Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber im Aufsichtsrat der FC Bayern München AG sitzt.

Ihr Fanklub, die „Schickeria“, hält die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit des Klubs am Leben. Die ist bemerkenswert. Zwar arisierte sich der Klub so wie alle deutschen Sportvereine schnell nach der Machtergreifung der Nazis. Dass die Mitglieder jedoch ihren jüdischen Vereinspräsidenten, der 1939 nach einer kurzen KZ-Haft in Dachau in die Schweiz fliehen konnte, nicht vergessen haben, ist beinahe einmalig in der deutschen Sportgeschichte. Kurt Landauer kehrte 1947 nach München zurück und wurde ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt. Fragt man die Fans der „Schickeria“, warum sie ausgerechnet die Großkapitalisten vom FC Bayern unterstützen, erzählen sie seine Geschichte.

„Dieses protzige Auftreten, wofür Bayern auch steht, dieses ‚Mia san mia‘, passt überhaupt nicht mehr“, sagt Till Hofmann. Heute kommt ein Manuel Neuer mit der Vespa ins Training, Schweinsteiger und Badstuber fahren mit dem Rad durchs Viertel. Die Zeiten sind vorbei, als Kahns roter Ferrari, M-OK1 auf dem Nummernschild, im Parkverbot stand. „Es ist eine große Lässigkeit eingekehrt.“

Früher hab ich im Berliner Olympiastadion VIP-Betreuung gemacht, Bändchen anmachen und so. Nur unsere Hertha war mir immer nicht gut genug, da musste man sich eine andere Mannschaft suchen. Die Bayern waren ja oft zu Gast. Der FC Bayern ist einfach der Beste und spielt den besten Fußball. Ich muss aber sagen, dass bei mir viel über Sympathie geht. Die haben schon gut aussehende Spieler, Gomez oder Schweinsteiger, das sind Exemplare, die viel Energie ausstrahlen und sicher total auf weibliche Fans wirken. Bei mir ist das ein bisschen anders, weil ich auf ältere Männer stehe, eher auf so reifere Trainertypen. Jogi Löw oder Lothar Matthäus zum Beispiel. Bei den Spielern passt’s bei mir eben vom Alter nicht. Spielen sehe ich sie selten, ich wüsste auch wirklich nicht, wann oder wie. Ich habe keinen Fernseher, bin wohl eher ein Standby-Fan.

Die Lässigkeit zeigt sich, wenn sich Bastian Schweinsteiger persönlich dafür einsetzt, dass einer der letzten Bolzplätze der Stadt, in der Nähe des Viktualienmarkts, gerettet wird. Oder Till Hofmann und sein Kumpel Mehmet Scholl in der Absturzkneipe „Schwabinger 7“ plötzlich feststellen, dass sie gar kein Geld dabeihaben. „Als Mehmet mit der Karte Geld holen wollte, meinte der Wirt: ‚Braucht’s ned. Da weiß ich was Besseres.‘ Und dann hat Mehmet aufgelegt, und ich musste Gläser spülen.“

Die Lässigkeit – und Selbstironie – zeigt sich auch, als Jens Jeremies Die Toten Hosen in den eigenen Privatkeller einlädt. Die Band hatte angekündigt, während einer Tour auch in Privatwohnungen aufzutreten. Ausgerechnet die Musiker, die mit ihrem Song „Wir würden nie zum FC Bayern München geh’n“ die Hass-Hymne überhaupt geschrieben hatten, lud sich Jeremies nach Hause ein.

Es scheint, als könnte das neue Image der Bayern so schnell nicht zertrümmert werden. Auch nicht durch den Absturz des Managers. „Er hat die Schramme“, sagt Till Hofmann über Uli Hoeneß, „aber auf lange Sicht macht ihn das viel sympathischer. Es ist halt eine Art von Sucht. Dieses Teflonartige ist dann endgültig vorbei. Die einzige Macke, die er hatte, war ja, anderen immer sagen zu müssen, wo es langgeht. Und seine Schramme macht anderen auch wieder Mut.“ Hoeneß, der geliebte Loser? Die Geschichte seiner Steuerhinterziehung hat ein Licht geworfen auf die dunkle Seite des FC Bayern, auf die Hinterzimmerfreundschaften des Vereinspräsidenten mit CSU-Größen, mit den Chefs der größten deutschen Unternehmen. Auf miese Geschäfte mit Medienmogulen, auf eine Patriziergesellschaft, die völlig abgehoben vom Rest der Bevölkerung ein Leben jenseits jeder Vorstellbarkeit führt.

Und doch könnte es sein, dass das der neuen Liebe zum FC Bayern keinen Abbruch tut. Wer denkt schon an die miesen Geschäfte des Präsidenten vom FC Barcelona, Sandro Rosell, auf den in Brasilien ein Betrugsverfahren wartet? Wer denkt an Silvio Berlusconi, wenn er sich an die großen Zeiten des von ihm geführten AC Mailand mit Ruud Gullit und Marco van Basten erinnert? Der Fußball führt auch beim FC Bayern ein Eigenleben, er steht für sich. Vielleicht kann man den Klub deshalb mögen. Auch wenn man seine Funktionäre nicht ausstehen kann.

Klar, die Verpflichtung von Mario Götze, den die Bayern für beinahe 50 Millionen Euro aus seinem Vertrag bei Borussia Dortmund rausgekauft haben, ist nicht gut angekommen in Fußballdeutschland. Jasmin Tabatabai wundert das nicht. „Es ist in Deutschland nun mal so: Egal, ob du im Sport erfolgreich bist, als Schauspieler oder als Musiker – eine der stärksten Triebfedern in diesem Land ist der Neid. Alles andere ist Augenwischerei. Und die Bayern haben deshalb so viele Feinde, weil sie so erfolgreich sind. Eben nicht nur fünf Jahre lang und dann verschwindet alles wieder. Sondern auf diesem Niveau seit 40 Jahren – das ist die Wahrheit.“ Die Aufregung um den Götze-Transfer mag sie deshalb weder verstehen noch ernst nehmen. „Was ist denn daran unmoralisch, wenn man immer die besten Spieler haben möchte?“

Und außerdem: Es seien doch die Spieler, die sich entschieden, nach München zu wechseln. Sie könnten es ja auch lassen. Aber es sei im Fußball eben nicht anders als in der Schauspielerei. „Du kannst in Deutschland die tollsten Filme machen – aber das höchste Niveau, das du erreichen kannst, ist, ehrlich gesagt, wenn dir jemand aus Hollywood eine tolle Rolle anbietet, wie das etwa Christoph Waltz passiert ist. Hollywood, der Olymp. Da will jeder hin. Jeder würde dich für verrückt erklären, wenn du es nicht machst. Und kann man sich umgekehrt vorstellen, dass Ribéry oder Schweinsteiger zu Borussia Dortmund wechseln?“

Fußballerisch gibt es dafür sicher nur wenig Gründe. Vor einem Jahr war das noch anders. Da hat der FC Bayern noch nicht auf seinen neue Stärke vertraut, ist zurückgefallen in altdeutsches Sicherheitsdenken.

Meine erste Fußballliebe gehört dem SC Freiburg. Dass dieser am Samstag, den 18. Mai mit Schalke 04 um einen Platz in der Champions League kämpfte, war eine große und zu Beginn der Saison völlig unvermutete Freude. Bayern München war seit den 70er Jahren immer meine zweite Fußballliebe, wenn es um die vordersten Plätze im internationalen Fußball ging. Die Begeisterung geht auf das Weltmeisterteam rund um Franz Beckenbauer zurück. Das war schlauer, schneller, abwechslungsreicher und kämpferischer Fußball, bei dem es Spaß machte zuzuschauen. Und ähnlich ist es jetzt wieder. Ein jeder kämpft auf seinem Platz mit maximalem Einsatz, und bei den letzten Spielen in der Champions League war es faszinierend zu sehen, welch guten Überblick das Team über das ganze Spielfeld hat. Es wirkt manchmal wie ein Strategiespiel. Und so macht es einem Zuschauer sowohl Freude, den einzelnen Spieler zu verfolgen, als auch, fast wie beim American Football, staunend zu sehen, wie sich das Spiel strategisch klug über den ganzen Platz entwickelt.

Es ist der 19. Mai 2012, das „Finale dahoam“ in der Allianz Arena, FC Bayern München gegen FC Chelsea London. 90 Minuten sind gespielt, es steht 1:1. Nach der Verlängerung noch immer 1:1. Es kommt zum Elfmeterschießen. Lahm trifft für Bayern, Mata verfehlt für Chelsea, Gomez trifft für Bayern, Luiz trifft für Chelsea, Neuer trifft für Bayern, Lampard trifft für Chelsea. Es steht 4:3 für die Bayern. Dann aber verfehlt Olic für Bayern, und Cole trifft für Chelsea. Ausgleich. 4:4.

Nun geht Bastian Schweinsteiger Richtung Tor. Blick auf den Rasen, er platziert den Ball, er läuft ein paar Meter zurück, und dann, irgendwie zu zaghaft, läuft er an.

Und schießt.

An den rechten Pfosten!

Der Ball prallt zurück in seine Richtung. Lahm läuft zu ihm, führt ihn zurück. Und Drogba? Trifft für Chelsea. Schweinsteiger bricht auf dem Rasen zusammen, das Spiel ist aus, verloren.

Wir sind „Erfolgsfans“? Ich glaube kaum, dass Anhänger eines Klubs aus dem Mittelfeld auch nur erahnen, wie schmerzhaft eine Final-Niederlage in der Champions League sein kann. Seit meinem fünften Lebensjahr, als der Kaiser vor meinen Augen über den Rasen schwebte, bin ich Teil der Bayern-Familie. Wie in jeder Familie gibt es auch hier Lieblingsonkels, es gibt Verwandte, die man meidet, oder das mitunter nervig dominante Familienoberhaupt. Und klar gab’s auch die Lebensphase, in der ich versucht habe, diesem Haufen zu entkommen. Aber man bleibt bis in die Knochen Teil davon. Heute ist es ja eh leicht, den FC Bayern zu mögen. Die Zeit des Dusels und der brachial errungenen Rumpelsiege ist vorbei. Die Zeit, als Spieler aktiv Wahlkampf für die CSU gemacht haben, auch. Wir haben über den Inneneinrichter Klinsmann, General van Gaal und schließlich Don Jupp auf wundersame Weise in die Fußballmoderne gefunden. Ich mag sie, diese Burschen da unten auf dem Platz. Jeden auf seine Weise. Und ich liebe diese herrliche Mischung aus Teamgeist, Willenskraft, Taktik und Technik. So bin und bleibe ich fröhlicher Teil dieser meiner riesigen, kantigen, aber auch berauschenden Familie. Da kann heute kommen, was will.

Was ist, wenn sie dieses Endspiel wieder verlieren?

Aus dem Finale ist ein Drama dahoam geworden. Doch nicht nur da. Sogar in Hamburg weinen sie mit den Münchnern. Es scheint, als hätte die Niederlage eine Tür zu vielen Herzen geöffnet.

Und was tut Schweinsteiger am nächsten Morgen? Er liegt mit dem Hund an der Isar, „die Haxen im Wasser“, sagt Till Hofmann. „Ab da war für ihn klar: jetzt erst recht! Er hat das verarbeitet, ohne wie Olli Kahn einen Psychologen anzufordern, sondern mit oberbayerischer Zähigheit. Ohne dieses Verbissene.“

Dabei sind die Bayern schon immer große Verlierer, wenn es um den Pokal mit den zwei Henkeln geht: Finalniederlagen gab es 1982 gegen Aston Villa, 1987 gegen den FC Porto, 1999 gegen Manchester United, 2010 gegen Inter Mailand und eben 2012 gegen den FC Chelsea.

„In einem Punkt hat sich etwas geändert“, sagt Volker Finke. „Die Mannschaften, die auf hohem Niveau agieren, spielen eine Partie in ihrer Grundauffassung zu Ende.“ Es wird früh angegriffen, der Ball wird schnell erobert, das Spiel entwickelt. An diesem Punkt ist der FC Bayern im Jahr 2013 angekommen.

Doch was ist, wenn dieses große Endspiel gegen Borussia Dortmund wieder verloren geht? Dann wird Bastian Schweinsteiger vielleicht wieder seine Beine im Münchner Fließwasser baumeln lassen, vielleicht wird er lächeln. Der FC Bayern hat sich längst schon wieder neu erfunden. Am 26. Juni wird Pep Guardiola, der den FC Barcelona einst zu einem perfekten Ensemble geformt hat, zum ersten Mal auf dem Trainingsgelände an der Säbener Straße stehen. Tod und Hass dem FCB? Nein, wir wollen sehen, was dabei herauskommt.

Die Autoren haben insgesamt 57,5 Jahre in München gelebt. Sie sind keine Fans des FC Bayern, tippen aber auf ihren Sieg