Was für ein Winter!

Von wegen harmloser Smalltalk: Sich über das Wetter zu unterhalten hat längst eine existenzielle Bedeutung erhalten – das Wettergespräch ist inhaltsschwer wie sonst solche über Politik und Religion

VON MARTIN REICHERT

Es ist ja wahr: Überall auf der Welt ist es gleich, wenn Fremde zusammenkommen. Sie unterhalten sich aus Verlegenheit über das Wetter. Diese Gespräche sind längst jeder Harmlosigkeit entkleidet, zumal jetzt, wo Väterchen Frost aus Russland zu Besuch nach Europa kommt. Die Kältewelle hat nun auch den Osten Deutschlands erreicht, in Sachsen wurden gestern minus neun Grad gemessen, im eisverregneten Berlin sogar bis zu Minus 14 Grad – und dazu herrscht zumindest vordergründig eitel Sonnenschein.

Am Tage wärmt die gleißende Sonne vor allem die Seele, gleichwohl muss die Heizung aufgedreht werden, und das bei diesen Energiepreisen: Der Strompreis ist im vergangenen Jahr im Schnitt um 4 Prozent gestiegen, Gas ist 19 Prozent teurer geworden, und die Preise für Heizöl stiegen 2005 im Schnitt um mehr als 30 Prozent. Während die pelzverbrämten VertreterInnnen der russischen Oligarchie den Schweizer Edel-Skiort St. Moritz stürmen, muss der russische Konzern Gazprom Lieferschwierigkeiten auf dem Heimatmarkt einräumen. Russland friert, in Moskau kursiert derzeit der Witz: „Komm, wir gehen in den Park ein Bier lutschen.“ Die Zahl der Kältetoten steigt.

Der kalte Gasschock

Deutschland bezieht mehr als ein Drittel seines Erdgases aus Russland, und Gazprom hat am Samstag versichert, dass es seine Lieferverpflichtungen gegenüber den europäischen Abnehmerländern erfülle, möglicherweise aber darüber hinausgehenden Forderungen nicht nachkommen könne. „Ganz schön kalt heute“, auch ganz gut, demnächst mit Gerhard Schröder einen Mann in Moskau zu haben, mag sich da mancher denken, während die BamS schon mal Tips gibt, wie man seine „Heizkosten einfrieren“ kann: Im Winter nachts die Gardinen zuziehen und die Kellerdecke isolieren. Aktentasche über den Kopf halten oder unter den Wohnzimmertisch kriechen, wenn der Öl- bzw. Gasschock kommt.

Das Wetter dringt naturgemäß in alle Poren, aber natürlich erscheint es nicht mehr: Extremkälte in Russland und Osteuropa, während die Arktis einen Wärmerekord erlebt. An der Westküste Spitzbergens in Ny-Ålesund, der nördlichsten Siedlung der Welt, nur rund 1.200 Kilometer vom Nordpol entfernt gelegen, gibt es derzeit die höchsten Januar-Temperaturen seit Beginn der Messungen vor fünfzehn Jahren, im Mittel zehn Grad wärmer als im Durchschnitt. In diesem Zusammenhang mit Fremden über das Wetter zu sprechen ist geradezu distanzlos, unangenehm intim: es handelt sich schließlich um existenzielle Fragen. Der Kanon der No-Nos bei Tischgesprächen muss erweitert werden: Nicht nur Religion und Politik sind verboten, sondern auch Gespräche über das Wetter.

Im benachbarten Polen hat es seit Beginn des Winters bereits 120 Kältetote gegeben, je größer die Schere zwischen Arm und Reich, desto größer die Zahl der Kältetoten. Eine grausame Energiebilanz, „was für ein Winter“. Rechtzeitig zur Ankunft der Kältewelle in Deutschland gastierte der Düsseldorfer Cellist Thomas Beckmann am Wochenende in Frankfurt (Oder), dem rund 80 Kilometer von Berlin entfernten östlichen Außenposten an der Grenze zu Polen: Auf seiner Tournee zugunsten Obdachloser bereist der Gründer des Vereins „Gemeinsam gegen die Kälte“ (www.gemeinsam-gegen-kaelte.de) bis Anfang April das ganze Land, mit dem Erlös des Frankfurter Benefizkonzerts soll die städtische Arbeitsloseninitiative unterstützt werden. Gemeinsam über das Wetter sprechen kann eben sehr verbindlich sein – es ist im übergeordneten Sinne hilfreich, um zwischenmenschliches Eis zu brechen.

Der Schriftsteller Chao-Hsiu Chen schreibt: „In der Kälte findet man selten Freunde. Gelingt es aber dennoch, hält diese Freundschaft ein Leben lang“, während Eugen Roth rät: „Dem Ofen gleich sei dein Gefühl. Bei Kälte warm, bei Hitze kühl“. Wenn es draußen kalt ist, muss man eben zusammenrücken: Wer in diesen Tagen zu einer Party einlädt, muss einen Extraraum bereit stellen, um die verschiedenen Garderobenschichten der Gäste zu lagern: mehrere Pullover übereinander getragen, Schals, Mützen, Fleece-Jacken, Handschuhe, Anoraks mit Fellkapuze, Mäntel, Thermojacken.

Tröstlich auch, dass die tiefste Temperatur, also der absolute Nullpunkt bei Null Kelvin (minus 273,15 Grad) nach dem dritten Hauptsatz der Thermodynamik (Nernst-Theorem) gar nicht erreicht werden kann. Die gefühlte Temperatur kann jedoch durch persönlichen Einsatz erhöht werden, zum Beispiel durch gute Gespräche mit Fremden: über das Wetter.