Im Zweifel wird‘s ein Gymnasiast

Neue Studie aus Essen beweist: Viele Grundschüler erhalten falsche Empfehlungen. Experten sehen eine spätere Auslese als Ausweg. NRW-Schulministerin setzt auf Qualifizierung von LehrerInnen

VON NATALIE WIESMANN

GrundschülerInnen in NRW werden von ihren LehrerInnen in großer Zahl auf die falsche weiterführende Schule geschickt. Das besagt eine neue Studie der Universität Essen auf der Basis von repräsentativen PISA-Daten. 84 Prozent der 15-jährigen HauptschülerInnen, die zuvor auf Gymnasium oder Realschule gescheitert sind, hatten als 10-Jährige eine Empfehlung für die höhere Schule erhalten. 62, 6 Prozent der RealschülerInnen, die zuvor das Gymnasium besucht hatten und wegen unzureichender Leistungen „absteigen“ mussten, waren zuvor von ihrer Grundschule als „gymnasial-tauglich“ eingeschätzt worden.

„Die Daten belegen erneut die Fragwürdigkeit der Schul-Laufbahn-Prognose bei Zehnjährigen“, sagt Schulforscher Rainer Block, der die Studie durchgeführt hat. Auch die Grundschulstudie IGLU kam bereits zum Schluss, dass LehrerInnen in vielen Fällen das spätere Leistungsvermögen der Kinder falsch einschätzen – und oft von dem Bildungsstand der Eltern abhängig machen.

Block warnt davor, der Grundschul-Empfehlung der LehrerInnen gegenüber dem Elternwunsch „ein entscheidendes Gewicht beizumessen“ – der Entwurf des NRW-Schulgesetzes, der heute im Kabinett abgestimmt wird, sieht genau dies vor. Das würde kaum dazu beitragen, die Zahl der Fehlentscheidungen beim Wechsel aus der Grundschule in weiterführende Schulen zu mindern, so Block. Seiner Studie zu Folge ist das Risiko, auf Grund einer falschen Schulform-Empfehlung vom Gymnasium oder der Realschule zurück zur Hauptschule zu müssen, acht bis neun mal größer als eine falsche Entscheidung auf Grund überstiegener Bildungserwartungen der Eltern. „Die Wahl der falschen Schulform hat vor allem damit zu tun, dass das Leistungsvermögen von Zehnjährigen und ihre weitere Entwicklung nicht hinreichend sicher eingeschätzt werden können“, so Block.

Was der Essener Forscher nicht offen ausspricht, übernimmt Baldur Bertling, stellvertretender Vorsitzender des Grundschullehrerverbands in NRW. „Das beste Rezept gegen Fehleinschätzungen ist eine spätere Sortierung der SchülerInnen“, sagt er. Die Verteidiger des dreigliedrigen Schulsystems, allen voran die CDU und FDP, könnten oft nicht einmal trennscharf beschreiben, was Realschule, Hauptschule und Gymnasium unterscheidet: „Einerseits soll das Gymnasium aufs Abitur vorbereiten, aber auch auf eine Ausbildung.“ Die Fehlprognosen der LehrerInnen und die Überschätzung der Eltern machen seiner Meinung nach nur einen kleinen Teil der falschen Schulwahl aus.

Das Schulministerium lässt die Studie nicht am deutschen Sortiersystem zweifeln. „Wir wollen die Qualifikation der Lehrer verbessern“, sagt Sprecher Andrej Priboschek. Auch die Meinung der Eltern habe weiterhin Gewicht. Nur wenn sie abweiche von der Einschätzung der Schule, sollen die Lehrerinnen nach einem mehrtägigen Prognoseunterricht entscheiden.